Ein hölzerner menschlicher Kopf in einer Schale befindet sich auf dem Fenstersims dieses geheimnisvollen Ortes – es ist eine Darstellung Johannes des Täufers. Foto: /Ulrike Rapp-Hirrlinger

Auch nach Jahrhunderten birgt dieser mystisch anmutende Raum, in dem sich ein leeres Grab befindet, viele Rätsel. Unsere Serie über geheimnisvolle Orte in der Region

Man muss über steile, abgetretene Stufen tief nach unten steigen, um plötzlich in einem – zumindest an sonnigen Tagen – lichtdurchfluteten Raum zu stehen. Durch ein großes Fenster an der Ostwand fällt das Licht auf ein offenes, leeres Grab. Es herrscht eine fast magische Stimmung in dem Raum mit dem Tonnengewölbe, das ohne stützende Pfeiler auskommt.

Hier in der Krypta unter der Denkendorfer Klosterkirche feierten einst die Chorherren des Ordens vom Heiligen Grab in Jerusalem Gottesdienste. Welcher Liturgie sie folgten, bleibt ebenso im Ungewissen wie viele andere Details. Vermutet wird, dass sie morgens bei Sonnenaufgang am leeren Grab zu einer Auferstehungsfeier zusammenkamen. Doch zur konkreten gottesdienstlichen Nutzung des Raums gebe es keine Überlieferung, schreibt der frühere Denkendorfer Pfarrer Heinrich Werner schon 1958 in den „Esslinger Studien“.

Blick von außen (Maierhof) auf das Fenster der Krypta. /Ulrike Rapp-Hirrlinger

Der Denkendorfer Ortsherr Berthold hatte die Kirche 1128 nach seiner Rückkehr von einer Wallfahrt nach Jerusalem dem Orden gestiftet. Denkendorf war die einzige Niederlassung des Ordens nördlich der Alpen. Das Doppelkreuz des Patriarchen von Jerusalem ziert noch immer das Denkendorfer Wappen. Das Gewölbe unter dem Chor entstand, als die Kirche im 13. Jahrhundert nach Osten hin erweitert wurde. Weil der Bau auf einer Bergnase steht, ist die Krypta nicht in die Erde gebaut, sondern als Unterkirche angelegt. Das Fenster, das die Krypta beleuchtet, ragt hoch über dem Maierhof auf.

Ein leeres Grab gibt Rätsel auf

Das symbolische Grab, eine mit Steinen eingerahmte rechteckige Öffnung im Boden, ist nicht in seiner ursprünglichen Form erhalten, sondern wurde mehrmals verändert und wahrscheinlich verkleinert. Auch hier lässt sich nichts Konkretes über die Verwendung sagen. Sicher ist nur, dass es an das leere Grab Christi und damit die Auferstehung erinnern will.

Vor einem Fenster an der Ostwand der Krypta befindet sich ein offenes leeres Grab. /Ulrike Rapp-Hirrlinger

Diente die Krypta wie viele andere ihrer Art als Begräbnisstätte? Auch das müssten erst Grabungen ergeben. Und wurden hier wie in der Grabeskirche in Jerusalem junge Krieger zum Ritter geschlagen? Man weiß es nicht. Ob Krypta und Kirchenraum über eine Öffnung verbunden waren, sodass man von oben das Geschehen verfolgen konnte? Auch dies eine offene Frage.

Die künstlerische Ausgestaltung des Raums hat symbolischen Charakter. Man nimmt an, dass die schmucklosen Wandpfeiler an der Westseite absichtlich nicht verziert wurden, um die Hölle zu symbolisieren. Von Westen, so glaubte man, komme das Böse. Die Kapitelle an den mittleren Pfeilern zeigen den Kampf von Gut und Böse. Für das Gute stehen als Symbol für Jesus Christus die Blätter des Lebensbaums, mit denen merkwürdige Tiergestalten und Drachen ringen. Die Fresken an den Fensterbögen, die erst Anfang des 16. Jahrhunderts hinzugefügt wurden, bilden neben den Heiligen Martin und Christophorus auch die Geschichte von Johannes dem Täufer ab. Dass es sich deshalb um eine Taufkapelle handelte, hält der Denkendorfer Pfarrer und promovierte Kirchenhistoriker Rolf Noormann für nicht stichhaltig, weil die Abbildungen das Martyrium des Täufers darstellen.

Gegen die Annahme, in der Krypta hätten Taufen stattgefunden, spreche zudem, dass die Taufe der Zugang zur Kirche und daher, wenn es separate Kapellen gibt, im Vorbereich der eigentlichen Kirche angesiedelt sei, nicht jedoch im „Allerheiligsten“ selbst, zu dem nur Getaufte Zutritt haben sollten. „Dass die Krypta als Ort der Auferstehung an das Martyrium des Vorläufers Jesu erinnert, ist inhaltlich nachvollziehbar und passt gut zu den Friesen“, sagt Noormann. Auch der hölzerne menschliche Kopf in einer Schale auf dem Fenstersims erinnert eher an den Tod Johannes des Täufers. Es ist die zeitgenössische Nachbildung eines örtlichen Holzschnitzers, nachdem das Original abhandengekommen war. Reinhard Mauz, der sich intensiv mit der Geschichte des Klosters beschäftigt, vermutet, dass die Pröpste des Klosters im 16. Jahrhundert nach einem neuen „Geschäftsmodell“ gesucht hätten. Schon mit dem Ende der Kreuzzüge hätten die Krypta und der Kult vom Heiligen Grab nach und nach an Bedeutung verloren. Damit seien wohl Spenden und Stiftungen zurückgegangen. Mit dem Aufkommen reformatorischer Gedanken habe sich das verstärkt.

Fries mit Blättern des Lebensbaums – ein Symbol für das Gute und Jesus Christus – sowie Tiergestalten. /Ulrike Rapp-Hirrlinger

Vom Ort des Gebets zum Lagerraum

Wahrscheinlich hätten sich die Chorherren inhaltlich breiter aufstellen und sich nicht nur auf das Thema Auferstehung beschränken wollen. Dass die Hinweise auf Johannes den Täufer aus dieser Zeit stammen, könne darauf hindeuten, dass in der Krypta zusätzlich der Täuferkult „vermarktet“ werden sollte. Und wie ist das mit „Klein Jerusalem“ als Ersatz-Wallfahrtsort, wie Denkendorf oft bezeichnet wird? Haben Pilger am leeren Grab gebetet, als die Heiligen Stätten in Jerusalem nicht mehr zugänglich waren? An Pilgerscharen glauben Noormann und Mauz nicht. Weder gebe es Dokumente dazu noch Hinweise auf Pilgerherbergen.

Die Fresken wurden erst Anfang des 16. Jahrhunderts hinzugefügt. /Ulrike Rapp-Hirrlinger

Nach der Reformation zogen ins Kloster evangelische Klosterschulen ein. Dort lehrte mit Johann Albrecht Bengel (1687-1752) einer der berühmtesten württembergischen Theologen. Der Dichter Friedrich Hölderlin gilt als prominentester Klosterschüler. Wie haben sie die Krypta genutzt? Schon nach der Auflösung der ersten Klosterschule 1584 habe es den Plan gegeben, das große Fenster zuzumauern und den Raum als Vorratslager zu nutzen. Nach der Säkularisation und dem Verkauf des Klosters diente die Krypta Anfang des 19. Jahrhunderts dann tatsächlich als Lagerraum unter anderem für Zuckerrüben. Der Esslinger Fabrikant Friedrich Kauffmann richtete im Kloster eine Senf- und Likörfabrik ein.

Zu den Öffnungszeiten der Klosterkirche ist die Krypta vom südlichen Seitenschiff aus für Besucher zugänglich.

Geheimnisvolle Orte in der Region

Lost Places
Der Begriff beschreibt verlassene Orte, oftmals handelt es sich um aufgegebene, dem Verfall überlassene Gebäude. Nicht immer haben diese historische Bedeutung. Gemein ist ihnen jedoch ihre geheimnisvolle Aura. Die Bezeichnung Lost Places ist ein Pseudoanglizismus, der sich im deutschsprachigen Raum etabliert hat.

Serie
In loser Folge stellen wir in den kommenden Wochen Lost Places in der Region vor, erzählen ihre Geschichte und dokumentieren fotografisch ihr morbides Ambiente. Manche dieser Orte sind offen sichtbar, andere verfallen – teils seit Jahrzehnten – unbemerkt von der Öffentlichkeit.