Die Finger macht man sich so oder so schmutzig, zum Beispiel mit Lisa Granadas „Kohledomino“, das spielerisch und bedrohlich an den gleichnamigen Effekt gemahnt. Foto: Städt. Galerie Esslingen

Sieben Meisterschülerinnen und -schüler der Stuttgarter Kunstakademie stellen in der Esslinger Villa Merkel aus. Dabei geht es – nicht nur – lustig zu.

Hoffentlich kommen auch welche vorbei zum Stoppen. Wo sich doch die Künstlerin Patricia Paryz als unglaublich einladende Passantenstopperin ablichten und aufstellen ließ: als flache Pappfigur, die Hände ausgebreitet wie eine heilige Franziska bei der Vogelpredigt, das Zahnpasta-Lächeln weit über die Mundpartie gezogen. Darum geht es schließlich: um das Humordefizit im strengen Ausstellungsbetrieb und seine Therapie. Wenn alles klappt, reißt die Künstlerin und zertifizierte Lachyoga-Trainerin vier Mal pro Woche (donnerstags und sonntags jeweils 14 und 17 Uhr) die Besucher aus ihrer andächtigen Stille in ein kollektives Ho-Ho-Hahahaaa – eine Mitmach-Performance nicht aus Pappe, sondern zwerchfellerschütternd live. Deshalb (und weil die frohe Humorbotschaft in ihrem missionarischen Ernst ihrerseits ironisiert wird) lautet der Titel „Seitenstichkabinett“ – von Seitenstechen, nicht als seitenstichelnder Verweis auf die benachbarten Webarbeiten von Linda Weiß.

Da zeigen sich organoide, auch landschaftsnahe Texturen, denen bisweilen wurmartig die Fäden heraushängen, und alsbald erkennt man die Antwort der Künstlerin auf die alte Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält: Pilze, diese großartigen Vernetzungstechniker der Natur von der Champignonplantage bis zum menschlichen Zehennagel. Dagegen das Internet – lächerlich.

Was die Welt im Innersten zusammenhält: Pilze

Linda Weiß wendet das Pilz-Paradigma samt seinen stoffwechselnden Aspekten in multimedialer Virtuosität auf ökologische wie soziale Zusammenhänge an. Sie packt Rohrzuckersäcke in Textilien, so dass unförmig-ungesunde Wänste entstehen. Auf die Webrahmen klebt sie kleine Zettelchen mit Notizen, die Komisches und Kosmisches zu letzten Dingen runden („Einsam / Werden / Harmonie“). Und mit der beim Gären des Kombucha-Pilzes erzeugten Wärme versuchte sie, eine nostalgische Carrera-Bahn anzutreiben – patentträchtig und eine ganz neue Energieperspektive, wenn es funktioniert hätte. Leider musste dann doch wieder das böse Lithium ran.

Spätestens hier stellt sich die Frage, welchem Netzwerk diese Ausstellung zu verdanken ist. Ausnahmsweise sind es keine Pilze (obwohl – wer weiß?), sondern die Auswahlgremien für das Weißenhof-Programm der Stuttgarter Kunstakademie, eine Postgraduierten-Begabtenförderung. Sieben Kunst-Cracks – altmeisterlich Meisterschülerin oder Meisterschüler genannt – wurden erkoren für die Abschlusspräsentation in der Esslinger Villa Merkel.

Schwarze Finger

Wie Patricia Paryz, aber auf ganz andere Weise arbeitet auch Lisa Granadas mit der körperlichen Beteiligung des Publikums. Sie legt schwarze Dominostein zum Spiel aus, die Spieler bekommen davon schwarze Finger, denn die Steine sind aus Steinkohle gepresst. Alles weitere steht im Informationsblatt: Die Kohle stammt aus Kolumbien, dem Heimatland der Künstlerin, wird dort unter verheerenden sozialen und ökologischen Bedingungen im Tagebau abgebaut und seit dem Boykott russischer Kohle von Deutschland importiert. Die Amoral von der Geschicht’: Man macht sich so oder anders die Finger schmutzig, in der Ausstellung wortwörtlich und zeichenhaft zugleich.

Menschenlos ist die KI-Technik

Jaewon Park tastet mit technologisch avancierten Arbeiten nach der Naht von menschlicher Sprache, Algorithmen und Künstlicher Intelligenz (KI). In „Space Bar“ tragen Stoffbanner Begriffe, die in Social-Media-Zirkeln bis zur Begriffslosigkeit abgenutzt, in Parks schriftlicher Form bis zur Unleserlichkeit graphisch überformt sind. „Truth“ oder „Trash“? Das ist hier schon keine Frage mehr. Sich selbst überlassen ist das System in „run baby, run!“, wo ein KI-gesteuerter 3D-Drucker plastisch-geometrische und sinnlos komplexe Objekte herstellt. Menschenlos, im doppelten Wortsinn.

Archäologie des Ausstellungsraums

Vielleicht der umgekehrten Stoßrichtung folgt Javier Klaus Gastelum, der die Villa selbst zum Objekt erklärt, ein Wandstück als Exponat aufstellt, das dahinter verborgene Fenster freilegt: eine Archäologie des Ausstellungsraums. Annette C. Halm wiederum spürt in „Die Malerin als Medium“ dem Tod einer Mutter und den Folgen für die erwachsenen Kinder nach. Entstanden als Emotionsprotokolle sind Farbnebel-Malereien zwischen Halogen und Halluzinogen, teils zerschnitten zu flashartigen Short Cuts.

Sisyphus und der Mutterkontakt

In der Untersicht auf ein strampelndes Wesen inszeniert eine Videoarbeit Jochen Wagners den Wechsel von Herkunft und Rückkunft als immerwährendem Prozess: eine Figur zwischen Sisyphus und dem mythischen Antäus, dem mörderischen Sohn der Erde, der sich im hüpfend wiederholten Mutterkontakt stärkt. Und wie eine melancholische Soundglocke hängt über der ganzen Schau Patricia Paryz’ Coverversion von Elton Johns Krisenüberstehersong „I’m still standing“. Wenn aus einem weiteren Video Wagners eine die Kellertreppe hinabrollende Discokugel dazwischenpoltert, wird’s noch melancholischer: wirkt und sieht aus wie der endgültigste aller Sonnenuntergänge.

Meisterschülerinnen und -schüler

Weißenhof-Programm
 Das Weißenhof-Programm ist ein Postgraduierten-Studiengang der Stuttgarter Kunstakademie für besonders begabte Künstlerinnen und Künstler. Der Studiengang endet mit dem Grad der Meisterschülerin beziehungsweise des Meisterschülers.

Ausstellung
 Die Abschlusspräsentation des Weißenhof-Jahrgangs 2020 ist bis 27. November in der Esslinger Villa Merkel zu sehen. Öffnungszeiten: dienstags 11 bis 20 Uhr, mittwochs bis sonntags 11 bis 18 Uhr. Lachyoga-Performance: donnerstags und sonntags 14 und 17 Uhr. Führungen: dienstags, 18.30 Uhr, und sonntags, 15 Uhr.