Die Malerin Charlie Stein verbindet in ihren multiperspektivischen Selbstporträts Picasso und Selfie. Foto: oh Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen - Adolf Hitler ist immer für ein Provokatiönchen gut. „GröKaZs“ nennen die vier Stipendiatinnen und Stipendiaten des Weißenhof-Programms der Stuttgarter Kunstakademie ihre Ausstellung in der Esslinger Villa Merkel - „Größte Künstler aller Zeiten“. Nun, wäre der nachmalige GröFaZ („Größter Feldherr aller Zeiten“) 1907 nicht an der Aufnahmeprüfung der Wiener Kunstakademie gescheitert und ein GröKaZ geworden, hätte dies der Welt zwar keine schlechte Kunst, aber etliche Massenmorde, einen Weltkrieg und andere Schandtaten erspart. Solche Katastrophenverhinderungszwecke stehen bei unseren Meisterschülerinnen und -schülern nicht mehr zur Debatte, sind sie doch allesamt ordnungsgemäße Kunststudenten und haben obendrein besagtes Stipendium ergattert. Die GröKaZ-Ironie mag denn der Selbstreinigung vom Streber-Image dienen - unter Wahrung der Provokationskoketterie, versteht sich. Inhaltlich hat der bescheuerte Titel rein gar nichts mit der Schau zu tun.

Zunge und Mund, Lust und Tod

Wir sehen etwa bei Gala Adam mild illuminiertes Licht durch die Villa-Fensterscheiben fluten, die mit roten, grünen und blauen Plastikfolien überzogen sind. „g.o.l.“ nennt sich - verrätselnd - die Farbsinfonie, mit der plastische Arbeiten der Künstlerin korrespondieren. „Glossolalie“ (Zungenrede) heißt ein Ensemble aus länglicher Rundform und Quadrat mit Lochkreis; Zunge und Mund, sitzmöbelhaft vergrößert, mit Kunstleder überzogen, erotische und andere Assoziationsräume öffnend. Ein kleines Bronzerelief mit dem Titel „Portal I Styx“ weist den Weg: Ist hier, schwarzflächig flankiert, die Pforte ins Totenreich mit dem Unterweltsfluss gemeint, könnte jene Zungenplastik zugleich ein Boot zur Überfahrt sein, zielend aufs Ungewiss-Offene des kreisrunden Lochs. Die bildliche Verschmelzung von Eros und Thanatos, Lust und Tod kehrt wieder in Adams Bronze-Miniaturplastiken im Obergeschoss der Villa. Säuberlich auf Tischdeckchen drapiert wirken sie wie archäologische Fundstücke im Museumsraum, ihre phallischen und vaginalen Formen erinnern an archaische Sexualitäts- und Fruchtbarkeitsfetische: Lebensspuren aus ausgestorbenen Kulturen, erotische Gegenwart im Zeichen des Todes.

Bei alldem geht es Gala Adam um die Interaktion mit dem Raum als physischer Größe der Anwesenheit und des Verschwindens, als Schauplatz des Lebens und Sterbens und ihrer Berührung. Deshalb stellt sie das Skelett eines ertrunkenen Hundes in den Raum, wie in einer Wiege sanft geschaukelt von der Drehbewegung eines Plattenspielers, dessen Nadel auf dem leeren Plattenteller kratzt und so dem toten Tier ein tonloses (Wiegen-)Lied vom Tod spielt. Mit einem konsequent zweidimensional konstruierten Wandbild wiederum erzeugt Adam dreidimensionale Wirkung: Auch dies ein Zeichen des Übergangs, der Zwischenräume.

Für Márton Dés zählt ein anderer Kunst-Lebensbegriff. Kunst ist für ihn Reflex des künstlerischen Alltagslebens. Während der Ausstellung produziert er gratis mitzunehmende Zeichnungen - Kunstproduktion wird zum Inhalt der Lebenszeit. Und umgekehrt: Eine Vitrine versammelt in schönstem Durcheinander Relikte des Künstlerlebens, vom Zigarettentabak über Münzen, eine Klopapierrolle und den VVS-Fahrschein nach Esslingen bis zum Notizbuch, dessen handschriftliche Zeilen als narratives Element an die Wand gesprüht wiederkehren: Erzählt wird von einer Taxifahrt mit seiner Mutter aus der Entbindungsklinik, wo sie ihn soeben zur Welt gebracht hat. Vom Nullpunkt der Künstlerexistenz aus entwickelt Dés seine Kunst, entsprechend hat er die Arbeiten für die Ausstellung konzipiert: als Recycling und Ausführung von Entwürfen eines Skizzenbuchs. Die Resultate - übermalte Figurenzeichnungen, in Farbflächen oder Nebelschlieren entgrenzte Konturen - hängen an den Wänden, inmitten steht das Motorrad eines Bekannten. Leben wird Kunst, Kunst wird Leben.

Kritische Einbildungen

Bei der Malerin Charlie Stein ist das gefiltert im Selbstporträt. Mit der Pinselhand reproduziert sie die Selfie-Kultur und verbindet sie formal mit Picassos multiperspektivischen Frauenporträts, der inneren Spiegelung physiognomischer Details. Die bisweilen monströsen vieläugigen, vielnasigen, vielmündigen Bilder gelten zugleich einer kritischen Bestandsaufnahme von Künstler-Klischees, Selbst- wie Fremd-Einbildungen. Und so zeigt sich Stein polemisch schon mal als Playboy-Bunny, verzeichnet sich grotesk zum sexualisierten Zerrbild mit Augen-Anus. Oder repetiert Gesichtsfragmente als Tapetenmuster, das die Galerie-Wände füllt.

Lilith Becker aber setzt sich in ihren Videoarbeiten der Natur aus: kullert singend einen tannenzapfenübersäten Waldabhang hinunter oder schwimmt mundharmonikablasend durch einen Grautopf im slowenischen Karst, einen düsteren und angeblich gefährlichen Quellsee. In einem Begleitvideo wird der tiefe Pfuhl von Einheimischen geradezu dämonisiert, Becker aber zieht eine Lebensklangspur durch diesen und andere Sterbensräume: Akkordeon spielend und „La Paloma“ singend etwa in einer Höhle, die in unregelmäßigen Abständen komplett von Wasser geflutet wird. Es sind - frei nach Nietzsche - Bilder von der Geburt der Musik aus dem Geist einer ekstatisch erfahrenen Natur, die noch in ihrer Bedrohlichkeit eins wird mit dem Leben: Einklänge von Kultur und Natur, denen bei aller Gefahr utopische Schönheit eignet. Und sie versöhnt sogar mit dem Ausstellungstitel.

Bis 26. November. Öffnungszeiten: dienstags von 11 bis 20 Uhr und mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr. Führungen beginnen sonntags um 15 Uhr und am Dienstag um 18.30 Uhr.