Da war die Kirchen-Welt im Bistum noch in Ordnung: Bischof Overbeck (ganz links) enthüllt am 13. Oktober 2021 in Anwesenheit von Essener Honoratioren feierlich das Kardinal-Hengsbach-Denkmal vor dem Dom. Foto: Imago/Funke Foto Services

Essens früherer Bischof und Kardinal Hengsbach wird des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Was wusste sein Amtsnachfolger Overbeck von den Vorwürfen – und seit wann? Kippt jetzt das Denkmal Hengsbachs vor dem Essener Dom? Und was macht der Fall mit der katholischen Kirche?

Der katholische Essener Bischof Franz-Josef Overbeck hat für seinen umstrittenen Amtsvorgänger Kardinal Franz Hengsbach (1910-1991) zu einem Zeitpunkt noch ein Denkmal enthüllt, als er nach Angaben seines Bistums bereits von Missbrauchsvorwürfen gegen den hohen Geistlichen wusste.

Bischof wusste seit 2011 von den Vorwürfen gegen Hengsbach

„Auf ihn kommen stürmische Zeiten zu“, sagt der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller über den Essener Bischof Overbeck. Foto: dpa/Marcel Kusch

Ein Bistumssprecher sagte demnach der Zeitung „Welt“ am Donnerstag (21. September): „Bischof Overbeck hat Anfang August 2011 erfahren, dass es im Erzbistum Paderborn einen Missbrauchsverdacht gegen Kardinal Hengsbach gibt, der geprüft werde.“

Über eine zweite Verdachtsmeldung gegen Hengsbach, die im Bistum Essen einging, sei Overbeck ebenfalls im August 2011 persönlich informiert worden. Wenige Monate später, am 13. Oktober 2011, enthüllte Overbeck eine überlebensgroße Statue Hengsbachs neben dem Essener Dom.

Verstorbener Kardinal des sexuellen Missbrauchs beschuldigt

Der damalige Ruhrbischof Kardinal Franz Hengsbach, aufgenommen während einer Pressekonferenz am 21. Februar 1991 in Essen, nachdem Papst Johannes Paul II. sein seit fünf Jahren vorliegendes Rücktrittsgesuch angenommen hatte. Foto: dpa/Achim Scheidemann
Hengsbach (Mitte) in Bergmannskleidung, aufgenommen 1958 bei der Einfahrt in den Schacht Franz des Verbundbergwerks Walsum. Foto: dpa/Bernhard Frye
Machtmensch: Hengsbach wusste stets, wo es lang geht. Widerstand gegen seine Kirchenpolitik war zwecklos. Foto: Imago/Bonn-Sequenz

Die Bistümer Essen und Paderborn hatten am Dienstag (19. September) mitgeteilt, dass sie „gravierende“ Missbrauchsvorwürfe gegen Hengsbach untersuchten. Er soll unter anderem in seiner Zeit als Weihbischof in Paderborn eine damals 16-Jährige missbraucht haben.

Außerdem wird er eines weiteren Übergriffs auf eine Frau 1967 in Essen beschuldigt. Die Untersuchungen laufen derzeit.

Was geschieht jetzt mit den Hengsbach-Plätzen und Denkmälern?

Der Kardinal-Hengsbach-Platz im Essener Zentrum. Foto: dpa/Roland Weihrauch
Auch in der Ruhrgebietsstadt Gladbeck gibt es einen Kardinal-Hengsbach-Platz vor der katholischen Herz-Jesu-Kirche. Foto: Imago/Funke Foto Services
Auch das Jugendhaus des Bistums Essen im Essener Stadtteil Kettwig ist nach dem Kardinal benannt. Foto: Imago/Funke Foto Services
Das Denkmal von Jürgen Görz an der Stirnseite des Augustinushauses in Gelsenkirchen erinnert ebenso an Hengsbach. Foto: Imago/Funke Foto Services

Nach der Veröffentlichung der Missbrauchsvorwürfe will die Stadt den Kardinal-Hengsbach-Platz in der Innenstadt der Ruhrgebiets-Metropole umbenennen. „Ich nehme die Anschuldigungen sehr ernst“, erklärte der Essener Oberbürgermeister Thomas Kufen. Das weitere Vorgehen der Stadt werde eng mit dem Bistum und dem Generalvikariat abgestimmt. „Klar ist aber auch, der Kardinal-Hengsbach-Platz in Essen wird so nicht mehr heißen können“, erklärte der CDU-Politiker.

Reform-Katholiken fordern Entfernung des Hengsbach-Denkmals

Eine kirchliche Ikone löst sich quasi auf. Foto: dpa/Roland Weihrauch
Protestaktion von Reformkatholiken vor dem Hengsbach-Denkmal am Essener Dom. Foto: dpa/Roland Weihrauch
Nach Missbrauchsvorwürfen haben Betroffenenvertreter die Augen des umstrittenen Denkmals mit einem Schal verhüllt. Foto: dpa/Roland Weihrauch

Zugleich begann eine Debatte um das Hengsbach-Denkmal vor dem Essener Dom. Der Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Norpoth, und die Reforminitiative Maria 2.0 fordern dessen umgehende Entfernung.

„Das Denkmal muss schnell verschwinden“, betont Norpoth und fordert zudem, dass das Bistum Essen mit einer Informationstafel an der Grablege des Bistums-Gründers in der Krypta des Doms über die Missbrauchsvorwürfe informieren solle. „Wir sind entsetzt, dass, obwohl die Vorwürfe schon sehr lange im Raum stehen, bis heute dazu öffentlich geschwiegen wurde“, teilt die Initiative mit, der nach eigenen Angaben bundesweit 100 Ortsgruppen angehören.

Ein Bistumssprechererklärt derweil, Forderungen nach einem Denkmal-Abriss oder Umbenennungen von Straßen und Plätzen hätten derzeit nicht die oberste Priorität. Die Bistumsspitze rechne aktuell mit weiteren Meldungen möglicher Missbrauchs-Betroffener. Diese könnten Missbrauchsvorwürfe gegen Hengsbach oder auch andere Kleriker betreffen. Die sorgfältige Prüfung der Vorwürfe werde sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen.

Kirchenrechtler: „Auf Overbeck kommen stürmische Zeiten zu“

Overbeck (li.) bei der Vorstellung der Missbrauchsstudie am 14. Februar 2023 (mit Generalvikar Klaus Pfeffer (Mitte) und der Personalleiterin im Generalvikariat, Christiane Gerard (re.).  Foto: Roberto Pfeil/dpa

Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller spricht von einem besonders dramatischen Fall. „Die Plausibilität scheint gegeben zu sein, sonst hätten die beiden Bistümer sich nicht an die Öffentlichkeit gewandt."

Bischof Franz-Josef Overbeck habe in einem „längeren Lernprozess“ verstanden, dass seine eigene Kirche nicht sachgerecht mit solchen Verdachtsfällen umgegangen sei und man eher den Tätern geglaubt habe, unterstreicht der Kanoniker. Overbeck habe sich aber für die Wahrheit entschieden, so Schüller weiter. „Er geht damit ein Risiko ein. Er muss das Bistum danach zusammenhalten. Auf ihn kommen stürmische Zeiten zu.“

Missbrauchsstudie: Viel mehr Missbrauchsfälle im Bistum Essen als angenommen

Laut einer im Februar 2023 veröffentlichten Studie des unabhängigen Instituts IPP zum Missbrauch im Ruhrbistum wurden seit der Gründung der Diözese insgesamt 423 Fälle von sexuellem Missbrauch vor allem durch Priester und Ordensleute gemeldet.

Das Bistum spricht von 201 Beschuldigten bis zum Februar 2023 – überwiegend Priestern aus dem Ruhrbistum und anderen Bistümern, Diakonen und Ordensleuten verschiedener Geschlechter. Täterkarrieren hätten sich teils über mehrere Jahrzehnte gezogen, erklärte die Leiterin des IPP-Forschungsteams, Helga Dill, bei der Vorstellung der Studie. „Missbrauch ist nicht nur ein Problem der Täter, sondern ein systemisches Problem der Kirche“, betonte damals Overbeck.

Das 1958 gegründete Ruhrbistum mit rund 720 000 Katholiken im Ruhrgebiet und Sauerland bezeichnet sich als flächenmäßig kleinstes Bistum Deutschlands. Bisher waren mit Stand 2020 bistumsweit 99 Menschen bekannt, die Opfer von sexuellem Missbrauch wurden.

Info: Auszüge aus dem Brief des Essener Bischofs Franz-Josef Overbeck an alle Kleriker und Mitarbeiter im Bistum Essen

Brief von Bischof Overbeck
„Liebe Schwestern und Brüder, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie Sie wissen, ist im März dieses Jahres die IPP-Studie zum sexuellen Missbrauch in der Geschichte des Ruhrbistums veröffentlicht worden. Diese Studie zeigt in aller Deutlichkeit: In der Vergangenheit wurde Betroffenen sexualisierter Gewalt zu oft keinen Glauben geschenkt. Der Schutz der Kirche stand ganz klar vor dem Schutz der Betroffenen. Unter dem Deckmantel von Religion und Glaube wurden – so deutlich muss das auch von mir gesagt werden – schreckliche Verbrechen begangen. Ich habe mir sehr lange nicht vorstellen können, was in welchem Ausmaß alles an Grauenhaftem geschehen ist. Insbesondere die Begegnungen mit Betroffenen haben mir die Augen geöffnet. Und doch gibt es auch heute noch in der katholischen Kirche Personen, die das Ausmaß an sexualisierter Gewalt kleinreden und relativieren. Das darf nicht sein. Dem muss mit aller Entschiedenheit widersprochen werden . . .“

Vorwürfe gegen Kardinal Hengsbach
„Ich eröffne meinen Brief an Sie mit diesen einführenden Gedanken, da ich vor einigen Monaten erfahren habe, dass Missbrauchsvorwürfe gegen den Gründerbischof des Bistums Essen, Franz Kardinal Hengsbach, erhoben werden. Diese Vorwürfe sind in der Tat gravierend. Ich habe mich deshalb nach gründlicher Abwägung der gegenwärtig zur Verfügung stehenden Erkenntnisse und vielen internen Beratungen dazu entschieden, diese Vorwürfe jetzt öffentlich zu machen. Mir ist dabei sehr bewusst, was diese Entscheidung bei vielen Menschen auslösen kann, die Kardinal Hengsbach als geschätzten Gründerbischof unseres Ruhrbistums in Erinnerung haben. Umso wichtiger ist mir, Ihnen einige Hintergründe zu erläutern, damit Sie meine Entscheidung einordnen können . . .“

IPPP-Studie
„Bei der Vorstellung der IPP-Studie habe ich gesagt, dass wir in unserem Bistum angesichts der massiven Versäumnisse in der Vergangenheit ehrlich sein müssen. Möglicherweise stellt sich bei manchen von Ihnen deshalb die Frage, weshalb ich nicht schon früher über die Vorwürfe gegen Kardinal Hengsbach informiert habe und in diesem Schreiben auch nicht näher auf die vorliegenden Vorwürfe eingehe. Mir war äußerst wichtig, eine gründliche Abwägung zu treffen und dazu auch die notwendigen Recherchen durchzuführen, die ich eben beschrieben habe . . .“

Schutz der Betroffenen
„Von besonderer Bedeutung ist aber auch der Schutz der Person, die sich an unsere Ansprechpersonen gewandt hat. Sie möchte unbedingt geschützt bleiben und hatte deshalb auch den Wunsch, die Öffentlichkeit nicht zu informieren. Nach den weiteren Recherchen zeigt sich mir aber: Es ist nicht auszuschließen, dass es weitere Betroffene sexuellen Missbrauchs durch Kardinal Hengsbach geben kann, die bislang nicht in der Lage waren, von ihren leidvollen Erfahrungen zu berichten. Sie möchte ich ermutigen, sich an die Ansprechpersonen zu wenden.“