Abstrakte Krippe im Atelier Colorquantum. Der Weihnachtssegen hängt schief. Aber im Unvollkommenen liegt das Vollkommene. Foto: /Karmen Kozar

Eine sehr persönliche Betrachtung über das Weihnachtsfest im Zeichen der Pandemie. Es gibt viele gute Gründe durchzuhalten.

Esslingen - Diese Zeilen gehören dem kleinen Theo, seiner Mutter Tina und Charlotte, die in einem Pflegeheim arbeitet...

Feierlichkeit liegt in der Luft, auch an diesem Weihnachtsfest. Vielleicht etwas weniger, weil zahlreiche Kirchenveranstaltungen ausfallen, die sonst für erhabene Gefühle sorgen würden. Vielleicht etwas mehr, weil die Sensibilität steigt. Die Pandemie, deren Ende nicht wirklich erkennbar ist, rückt die Verletzlichkeit des Menschen stärker ins Bewusstsein. Corona-Ausbrüche in den Esslinger Pflegeheimen Obertor und Berkheim, die permanente Be- und Überlastung der Mitarbeiter im Klinikum Esslingen und den Medius Kliniken im Kreis – dies und vieles mehr verstärken das Gefühl, ausgeliefert zu sein.

Als ich vor wenigen Tage eine Freundin fragte, wie es ihr geht, bekam ich eine beängstigende Antwort: „Bald kein Gefühl mehr dafür…“ Charlotte arbeitet in einem Pflegeheim – und schon seit langem am Limit. „Verdammtes Corona!“, hörte ich die trauernde Freundin weinen.

Es ist „nur“ ein Virus

Verdammtes Corona! Der Fluch auf das Virus hilft ein wenig, die eigene Hilflosigkeit erträglicher zu machen. Leider wissen wir zu gut, dass das Virus „nur“ ein Virus ist, so wie eine Rose eine Rose ist. Es hat kein Bewusstsein, ist weder gut noch böse, sondern verhält sich nicht anders als Tiere und Pflanzen: Es tut nur das, was es aus sich heraus kann, lebt seine Bestimmung – nicht mehr, nicht weniger. Das macht es sogar berechenbar, was wiederum dabei hilft, es zu bekämpfen.

Ganz anders der Mensch, der sich entwickelt, meist nach vorne, manchmal aber auch zurück. Dieses Entwicklungswesen mit Bewusstsein ist nur bis zu einem gewissen Grad berechenbar, weil es sich ständig verändert. Mal sorgt es für eine freudige Überraschung, mal für eine abgrundtiefe Enttäuschung. Diese Eigenschaften zeigen sich auch in der Pandemie. Die große Mehrheit verhält sich vernünftig, während eine Minderheit neben der Spur läuft und das Leid und den Tod vieler Menschen aufs Spiel setzt. Das ist die Schattenseite der Unberechenbarkeit.

Auf der anderen Seite steht die Solidarität, die Bereitschaft, auch dann zu helfen, wenn es einem selbst schaden könnte. Das klingt nicht nach Selbsterhaltungstrieb und ist insofern ebenfalls unberechenbar – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen.

Die Künstlerin Karmen Kozar, die die abstrakte Krippe oben im Foto vor dem Hintergrund eines ihrer Bilder fotografierte, sagte mir neulich, sie suche und finde das Vollkommene im Unvollkommenen. Das war schön gesagt und machte mich nachdenklich. Die Stärke, die im Angesicht der Unvollkommenheit wächst, hat etwas Vollkommenes. Menschen, die in der Not über sich selbst hinauswachsen, dabei aber „unvernünftigerweise“ eigene Nachteile in Kauf nehmen, sind nicht vollkommen, weil sie sich selbst aufs Spiel setzen. Gleichzeitig sind sie vollkommen menschlich.

Das macht Hoffnung

Von Not und Hoffnung berichtet auch die Weihnachtserzählung im Neuen Testament. Hätte es vor 2000 Jahren schon sozialwissenschaftliche Studien gegeben, kaum einer hätte darauf gewettet, dass das in schlimmste Armutsverhältnisse hinein geborene Jesuskind irgendeine Chance hat. Es gab aber Leute, die an es glaubten. So entsteht die Geschichte eines hilflosen Säuglings, der unter widrigsten Umständen auf die Welt kommt und, so das glückliche Ende, als erwachsener Mann die gesamte Menschheit rettet. Das ist die Story: In tiefster Verzweiflung geschieht etwas unfassbar Gutes. Geboren wird in diesem Moment die Hoffnung.

Als in diesen Tagen Mitarbeiterinnen der Sozialstation Esslingen einen Hilferuf aus dem Pflegeheim Berkheim vernahmen und zur Hilfe eilten, weil dort fast jeder zweite Beschäftigte einen positiven Corona-Test hatte, war es wieder da, dieses unfassbar Menschliche, das in schlechten Zeiten Hoffnung in die Welt bringt. Sie füllten die Lücken. Und als die Mitarbeiter des Klinikums Esslingen ein Tanzvideo ins Internetstellten, in dem sie der großen Corona-Depression trotzten, konnte das als lustiger Ulk verstanden werden.

Ein trotziger Appell

Tatsächlich war es sehr viel mehr. Hinter dem Line Dance der Mitarbeiter verbarg sich eine befreiende Komik. Es war ein Akt jenseits der Vernunft, aber auch jenseits der Unvernunft. Ein trotziger Appell an die Menschlichkeit, ein Symbol für den Willen, durchzuhalten.

Der Weihnachtssegen mag schief hängen, die abstrakte Krippe im Atelier von Karmen Kozardrückt das ganz gut aus. Und das Corona-Drama ist noch lange nicht zu Ende. Doch der Akt, eine solche Krippe aufzustellen und zu fotografieren oder ein Tanzvideo zu drehen, macht etwas deutlich: Wir handeln, wir formen, wir lassen uns nicht unterkriegen.

Tina, eine frühere Arbeitskollegin, schickte mir ein ganz anderes Foto. Aus dem Krankenhaus. Dazu der Text: „Eine neue Liebe!“ Theo und seiner Mutter gehe es gut. Theo, der im Advent des Corona- Jahres 2020 geboren wurde.