Trauernde besuchen die Gräber von Familienmitgliedern auf einem Friedhof in Antakya. Foto: Boris Roessler/dpa

Ein Jahr nach den schweren Erdbeben in der Türkei kommen bei vielen die schmerzhaften Erinnerungen hoch. Die Menschen gedenken der Zehntausenden Toten. Doch auch Zorn macht sich breit.

Hatay - Ein Jahr nach den verheerenden Erdbeben haben die Menschen in der Türkei der Zehntausenden Toten gedacht und ihrer Wut über Regierung und lokale Behörden Luft gemacht. In der am stärksten betroffenen südosttürkischen Provinz Hatay erinnerten Anwohner am Dienstag um 4.17 Uhr (Ortszeit) an die Opfer - genau zu dem Zeitpunkt, an dem das erste schwere von zwei Beben die Region vor einem Jahr erschüttert hatte. Auch in den anderen von insgesamt elf betroffenen Provinzen gab es Gedenkveranstaltungen. Dabei machte sich auch Wut gegen die Regierung breit.

In der Stadt Antakya riefen Menschen im Chor: "Hört jemand unsere Stimmen?" - den Satz hatten auch Retter vor einem Jahr gerufen, als sie tagelang nach Verschütteten suchten. Heute steht er dafür, dass sich viele Überlebende in der Region ignoriert und ihrem Schicksal überlassen fühlen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte versprochen, den Wiederaufbau in der Region schnell voranzutreiben. Am Dienstag reiste er in die Erdbebenprovinz Kahramanmaras und vergab Wohnungen an Betroffene. Doch dies scheint wie ein Tropfen auf den heißen Stein zu sein. Hunderttausende Leben noch in Notunterkünften, und die Menschen vor Ort leiden auch ein Jahr danach stark unter den Folgen des Bebens.

Am 6. Februar hatte am frühen Morgen ein Beben der Stärke 7,7 den Südosten der Türkei getroffen, ein weiteres Beben der Stärke 7,6 folgte am Nachmittag desselben Tages. Allein in der Türkei kamen nach Regierungsangaben mehr als 53.000 Menschen ums Leben. Genaue Angaben zu den Opfern aus dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Nachbarland Syrien sind schwer zu ermitteln. Unbestätigten Informationen zufolge könnten dort mehr als 6000 Menschen gestorben sein.

Der Präsident und seine islamisch-konservative Regierung standen nach dem Beben schwer in der Kritik, ihnen wurden unter anderem Fehler beim Krisenmanagement vorgeworfen. Zudem gerieten sogenannte Schwarzbauten in den Fokus, die illegal errichtet und dann später von der Regierung legalisiert worden waren.

Wut gegen die Regierung

In Hatay mischte sich in das Gedenken Wut gegen die Regierung: Tausende Menschen buhten Vertreter aus und bezeichneten sie teilweise als Mörder. Gesundheitsminister Fahrettin Koca von der regierenden AK-Partei wurde bei seiner Rede ausgepfiffen.

Kritik richtete sich aber auch gegen den Bürgermeister von Hatay und Politiker der größten Oppositionspartei des Landes, Lütfü Savas. In Sprechchören wurde dessen Rücktritt gefordert. Andere forderten auf Schildern, dass die Verantwortlichen in Verwaltung und Politik vor Gericht gestellt werden müssten.

Die Menschen in Hatay werfen der Regierung zudem vor, den Wiederaufbau in der von der Opposition regierten Provinz nur zögerlich voranzutreiben. Eine Teilnehmerin der Kundgebung sagte der Deutschen Presse-Agentur (dpa), Erdogans Regierung ignoriere das Leid der Menschen in Hatay. Erdogan selbst hatte diese Diskussion am Wochenende bei einem Besuch in Hatay mit der Aussage befeuert, wer nicht mit seiner Zentralregierung zusammenarbeite, dem könne nicht richtig geholfen werden.

Auf der Plattform X, vormals Twitter, versprach Erdogan, niemanden allein zu lassen. Man werde die Bemühungen fortsetzen, bis "der letzte Bürger, dessen Haus zerstört wurde oder nicht mehr bewohnbar ist, ein sicheres Heim erhält", schrieb er. Vorwürfe der Opposition, er habe in einem Jahr zu wenig geleistet, wies er bei seinem Besuch in Kahramanmaras zurück.

Experten rechneten mit einem schweren Erdbeben

Vor der Katastrophe hatten Forscher mit einem starken Erdbeben in der Region gerechnet, waren aber von der hohen Zahl der Opferzahl überrascht. Prognosen hatten nach Angaben des Deutschen Geoforschungszentrums (GFZ) Potsdam für den Fall eines solchen Szenarios etwa 15.000 Opfer erwartet, also etwa ein Drittel der offiziellen Opferzahl in der Türkei.

Fabrice Cotton, Leiter der Abteilung für seismische Gefahren und dynamische Risiken am GFZ, zitiert dazu einen Leitsatz der Erdbebenforschung: "Nicht Erdbeben töten Menschen, sondern Gebäude." Baunormen würden nicht überall gleich gut angewendet, und es gebe auch Gebäude, die vor dem Inkrafttreten der strengeren Normen errichtet wurden.

Erdogan hatte kurz nach den Beben das ehrgeizige Ziel gesetzt, innerhalb eines Jahres rund 300.000 Wohngebäude zu errichten. Dieses Ziel wurde verfehlt, inzwischen spricht der Präsident von 200.000 Wohneinheiten bis Ende 2024. In der Türkei sind Behördenangaben zufolge noch immer fast 700.000 Menschen in Containern untergebracht. Auch wenn die Regierung offiziell angibt, dass Zeltstädte aufgelöst worden seien, lebt noch eine unbekannte Anzahl von Menschen in Zelten.

Millionen Kinder sind auf humanitäre Hilfe angewiesen

Die Vereinten Nationen forderten zügige Verbesserungen bei der Unterbringung der Erdbebenopfer in der Türkei. Es würden zwar Wohnungen gebaut, aber deutlich zu wenige, sagte Louisa Vinton, Repräsentantin des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP), der dpa. Die Situation in Hatay sei "immer noch apokalyptisch". Die UN schätzen, dass mindestens 3,3 Millionen Menschen infolge der Doppelbeben obdachlos wurden. Menschenwürdiger Wohnraum und die Sicherung des Lebensunterhalts seien nach einem Jahr weiterhin zwei dringende Bedürfnisse, so Vinton.

Das UN-Kinderhilfswerks Unicef machte auf das Schicksal der Jüngsten aufmerksam: In der Türkei hätten mehr als vier Millionen Kindern nicht mehr regelmäßig lernen können, teilte die Organisation mit. Während sich die Situation der betroffenen Kinder in der Türkei verbessere, verschlechtere sich allerdings die humanitäre Lage für Kinder und Familien in Syrien. Dort seien weiterhin rund 7,5 Millionen Kinder auf humanitäre Hilfe angewiesen. In der Türkei benötigen 3,2 Millionen Kinder lebenswichtige Unterstützung.

Die Organisation Ärzte ohne Grenze warnte, dass die Menschen im Nordwesten Syriens noch immer unter starker psychischer Belastung litten und es an sauberem Wasser, Nahrungsmitteln und Unterkünften mangele. "Seit dem Erdbeben sind die Fälle von posttraumatischer Belastungsstörung und Verhaltensproblemen sprunghaft angestiegen, vor allem bei Kindern", sagte Omar Al-Omar, Betreuer für psychische Gesundheit bei Ärzte ohne Grenzen in Idlib. Auch in der Türkei leiden die Menschen unter psychischen Folgen.

Wegen der weitreichenden Zerstörung sind zudem viele Menschen in der Region arbeitslos geworden; ihnen fehlt dadurch selbst das Geld fürs Nötigste. Gleichzeitig boomt der Bausektor vor Ort und zieht zahlreiche Arbeitskräfte aus dem ganzen Land in die Region.

Trotz Kritik am Krisenmanagement war Erdogan im vergangenen Mai nach 20 Jahren an der Macht wiedergewählt worden. Ende März stehen Kommunalwahlen an. Die Erdbebenvorsorge ist das bestimmende Thema im Wahlkampf, vor allem in der Millionenmetropole Istanbul. Dort ist nach Einschätzung von Experten ein schweres Beben der Stärke 7 oder mehr überfällig.