Mit Samy’s Pub schließt an Silvester die wohl kultigste und ulkigste Kneipe Böblingens. Nach 45 Jahren am Tresen sagt Wirt Omran Salameh: „Man will ja nicht hinter der Theke sterben.“
Wer jemals zu später Stund durch das Böblinger Nachtleben irrte auf der Suche nach Zuflucht, landete womöglich hier, in der kultigsten Kneipe der Stadt: Samy’s Pub. Adresse: Marktstraße 32. Eindruck von außen: Mehr als unscheinbar. Dort, zwischen Marktplatz und Oberer Poststraße, duckt sich das Haus mit dem kleinen Lokal im Erdgeschoss unter die Stadtkirche. Die mit rotem Tüll verhängten Schaufenster erlauben kaum einen Blick nach drinnen, an der schwarzen Tür hängt weder ein Schild noch sonst etwas Einladendes. Trotzdem ist dieses kaum 40 Quadratmeter große Biotop in Böblingen Kult. Vom 1. Januar an ist es Geschichte.
Im Inneren riecht es nach Wasserpfeife, Kirsche oder vielleicht auch Erdbeere. Das Licht ist gedämpft, die Hektik des Alltags darf draußen bleiben. Mitten in dieser Zeitkapsel steht Omran Salameh im Halbdunkel und lehnt seinen Arm auf einen Barhocker. Dieser stets freundliche, nie laute Wirt, der hier abseits des Tageslichts mehr als sein halbes Leben verbracht hat. „Ich werde im Februar 80 und jetzt habe ich mir gedacht: Es reicht.“ Er wolle ja nicht hinter der Theke sterben.
Diese seine Theke ist keine drei Meter lang und nur mit fünf Barhockern bestückt. 45 Jahre lang stand er hinter ihr und servierte in stoischer Ruhe Biere, Cocktails und: Salzstangen. Das Publikum fläzte mit Vorliebe auf den durchgesessenen Sofas, die gefühlt so alt sind wie ihr Besitzer. Überhaupt: Die schummrigen Leuchten, die Holzvertäfelung über der Korktapete, die Dekospiegel, die Jack-Daniel’s-Flaschen im Deckenregal: In Samy’s Pub scheint die Zeit stillzustehen. Und das seit 1978.
„Ich habe vier Bürgermeister in Böblingen erlebt“, sagt Salameh und weiß vielleicht gar nicht, dass Böblingen seit der Staatsgründung erst den vierten Bürgermeister hat. Der gebürtige Jordanier war gerade mal 17 Jahre alt, als er 1961 in seiner Heimatstadt Amman eine Zeitungsannonce der Deutschen Botschaft entdeckte. Darin wurden Gastarbeiter gesucht, die in Deutschland ihr Glück versuchen wollen. Salameh bewarb sich. Fünf Wochen später erhielt er einen Brief von der Botschaft – mit der Zusage.
„Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich in Deutschland angekommen bin. Es war der 24. November 1961. Wir wurden direkt vom Flughafen abgeholt“, sagt er. Er arbeitet ein halbes Jahr bei einer Firma, die im Auftrag der US Army deren Gebäude instand hält, was ihm allerdings weniger zusagt. Nach Stellen in einer Lackfabrik in Feuerbach und bei einem Ventilatoren-Fabrikanten in Weilimdorf wechselt er in die Gastronomie: Erst als Kellner im Parkrestaurant auf dem Stuttgarter Killesberg, dem heutigen Perkins Park, dann als Barkeeper im damaligen Flughafenhotel.
Salameh: „Doch nach dem Attentat bei den Olympischen Spielen 1972 durfte kein arabischstämmiges Personal mehr auf dem Flughafen arbeiten.“ So verschlägt es ihn ins Mövenpick-Hotel im Stuttgarter Schlossgarten – inklusive einer achtwöchigen Ausbildung zum Barkeeper im schweizerischen Luzern. Wieder zurück hinterm Tresen erregt er das Interesse eines nicht ganz unbekannten Mannes: Willem van Agtmael, der spätere Geschäftsführer von Breuninger, steht damals noch in Diensten der Hotelkette Holiday Inn. „Er hat mich angesprochen, ob ich nicht ins Holiday Inn nach Sindelfingen kommen möge und dort die Bar leiten.“
Salameh blieb bis 1978 im Holiday Inn. Aus dieser Zeit stammt auch sein Spitzname: „Mit mir arbeiteten zwei Irinnen, die konnten ‚Salameh’ nicht aussprechen und nannten mich ‚Samy’.“ Schon damals hatte er seine Stammgäste, streckte aber seine Fühler nach Böblingen aus. Dort betrieb der österreichische Gastwirt Kerngast eine Whiskey-Bar in besagtem Haus in der Marktstraße, die er abgeben wollte. „Als ich 1978 den Pub eröffnet habe, haben mich die anderen Wirte ausgelacht. Ein Pub, das gehe vielleicht in Berlin, Hamburg oder München, aber doch nicht in Böblingen“, sagt Salameh. Doch sie sollten sich irren.
Die kleine, verträumte Bar kam bei Nachtschwärmern gut an. Samy’s Spezialität waren Cocktails, von denen er 25 auf der Karte hatte. Seine zweite Spezialität waren die Öffnungszeiten: An sieben Tagen die Woche stand er von 16 bis 4 Uhr in seiner Bar, mit der er verwachsen scheint wie andere mit ihrem Wohnzimmer. Die Einrichtung übernahm er, riss nur die unbequeme Eckbank raus. Die Jukebox mit den Schallplatten blieb.
An den Wänden hängen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Es ist, als könnte jedes Stück eine Geschichte erzählen. Die Tür hinter dem Tresen ist gepflastert mit Geldscheinen unterschiedlichster Couleur. „Den ersten Geldschein in Pfund Sterling hat mir einst ein Schotte geschenkt, als Andenken“, sagt er. Samy’s Pub war berüchtigt für den allerletzten Absacker. „Ich habe immer erst zugemacht, wenn nach 4 Uhr die Polizei kam“, sagt er. Wegen anderer Vorfälle hätten die Ordnungshüter nie anrücken müssen: „Hier gab es in 45 Jahren keine einzige Schlägerei. Ich kannte meine Gäste ja fast alle.“ Von 28 Ehepaaren wisse er, dass sie sich im Samy’s Pub kennengelernt hätten. Bei sechs von ihnen war er auf die Hochzeit eingeladen. Ohnehin sei es früher an der Bar familiärer zugegangen: „Es gab ja keine Handys, die Leute haben sich noch unterhalten!“ Die einzige Verbindung in die Außenwelt war sein Wandtelefon, Modell Bundespost 611-2 mit Wählscheibe und Schnur. Es hängt heute noch dort.
„Urlaub hatte ich so gut wie nie“, sagt der 79-Jährige. Erst als sein Sohn Benjamin erwachsen war, konnte er ihn hinterm Tresen vertreten. Doch die Bar übernehmen, kam für keines seiner Kinder infrage. Sie hätten alle gute Jobs und seien froh, dass sie jeden Monat pünktlich ihr Gehalt bekommen. Außerdem müsste er einiges investieren, die Gewerbeaufsicht hat ihm Vorgaben gemacht für eine Kohlenmonoxid-Meldeanlage, eine neue Lüftungsanlage, neue Sanitäranlagen. Da käme ganz schön was zusammen.
„Doch für wen sollte ich das investieren, wenn es dann keiner übernimmt?“, sagt Salameh. Also entschied er sich, die Kneipentür ein für alle mal zu schließen. Wobei, so ganz stimmt das nicht: Man könne die Bar für private Anlässe mieten, sagt er. Über 20 Stammgäste hätten schon angefragt. Und für ihn? „Mir fehlt da schon was, es war ja meine Existenz“, sagt er. Es sei schade, die Leute nicht mehr zu sehen, von denen ihn so viele in der Stadt kennen. Wenn er mit seiner Enkelin um die Böblinger Seen spaziert, werde er oft angesprochen. Die Enkelin sei ganz stolz: „Opa, Du kennst aber viele Leute!“
Auch ihnen wird Samy und sein Pub fehlen. Dieses Unikum, dieses Urgestein, das einfach zum Inventar der Stadt gehörte. Schwacher Trost: „Wenn mich jemand braucht, bin ich da. Solange ich noch laufen kann.“