Wer Aussagen veröffentlicht, die der Erdogan-Regierung nicht gefallen, dem drohen bis zu viereinhalb Jahre Haft.
Als der Oppositionspolitiker Burak Erbay im türkischen Parlament ans Rednerpult trat, brachte er sein Handy mit – und einen Hammer. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan habe der Jugend des Landes schon viele Freiheiten genommen, kritisierte Erbay in der Debatte des Parlaments über ein neues Mediengesetz. Geblieben seien nur soziale Medien wie Instagram, Youtube oder Facebook. Doch das neue Gesetz werde auch damit Schluss machen, rief Erbay aus und zertrümmerte sein Telefon mit dem Hammer. „Ihr könnt eure Handys wegschmeißen.“
Erbay konnte mit seiner Aktion nicht verhindern, dass das Parlament mit der Mehrheit von Erdogans Partei AKP und deren nationalistischer Partnerin MHP das „Gesetz zur Bekämpfung der Desinformation“ verabschiedete. Die Opposition spricht von einem Zensurgesetz und will das Verfassungsgericht anrufen. Kritik kommt auch von Menschenrechtsorganisationen und aus dem Europarat. Doch Erdogan dürfte das Gesetz in den kommenden Tagen mit seiner Unterschrift in Kraft setzen. Das wird der Meinungsfreiheit in der Türkei den Rest geben, befürchten Erdogans Gegner.
Gefängnisstrafe für „Falschinformationen“
Im Mittelpunkt der Kritik steht Artikel 29 des Gesetzes. Er sieht bis zu drei Jahre Gefängnis für alle vor, die „Falschinformationen“ über die innere oder äußere Sicherheit des Landes, die gesellschaftliche Ordnung und die Volksgesundheit verbreiten, um in der Bevölkerung „Sorgen, Angst oder Panik“ zu verursachen und so die öffentliche Ordnung zu stören. Wird die „Falschinformation“ unter einem falschen Namen – also etwa einem Twitter-Namen – oder „im Rahmen einer Organisation“ veröffentlicht, steigt die Höchststrafe auf viereinhalb Jahre.
Was eine „Falschinformation“ ist, wann eine Meldung die öffentliche Ordnung stört oder „Panik“ verursacht, bleibt in dem Gesetz offen. Die Auslegung liegt allein bei der Staatsanwaltschaft, die größtenteils mit regierungshörigen Juristen besetzt ist. Bestraft werden können Journalisten, aber auch Privatleute, die ihre Meinung über die sozialen Medien verbreiten. Gökcer Tahincioglu, Rechtsexperte des unabhängigen Nachrichtenportals T 24, gab am Freitag einige Beispiele dafür, welche Aussagen künftig eine Haftstrafe nach sich ziehen können: Warnungen vor steigenden Benzinpreisen, Voraussagen über einen weiteren Wertverlust der türkischen Lira, Berichte über Wahlmanipulationen.
Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni
Die Berichterstattung regierungsnaher Medien wird schon jetzt von Erdogans Presseamt gesteuert, wie eine Analyse der Nachrichtenagentur Reuters belegte. Mit dem Gesetz wolle Erdogan vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni die regierungsunabhängigen Medien und das Internet knebeln, sagen Kritiker. Öffentliche Beschwerden über die hohe Inflation und steigende Mieten lassen die Unterstützung für die Regierung schwinden: Das Bündnis aus AKP und MHP liegt in einigen Umfragen hinter einer Allianz aus sechs Oppositionsparteien.
Schon jetzt ist die Meinungsfreiheit in der Türkei stark eingeschränkt: Seit Erdogans Amtsantritt eröffnete die Justiz fast 200 000 Verfahren wegen des Vorwurfs der Präsidentenbeleidigung. Oppositionspolitiker und Journalisten sitzen wegen angeblicher Terrorpropaganda in Haft. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hatte die Türkei aufgerufen, das Gesetz nicht zu verabschieden, weil es „der Meinungsfreiheit vor den Wahlen einen nicht wiedergutzumachenden Schaden“ zufüge.