Neurologische Beschwerden sind einer neuen Studie zufolge mittlerweile weltweit die Hauptursache für Krankheit und Behinderung – mit deutlichen Unterschieden zwischen verschiedenen Ländern und zwischen den Geschlechtern.
Weltweit leiden 3,4 Milliarden Menschen an neurologische Beschwerden. Das sind 43 Prozent der Menschheit. Zu diesem Ergebnis kommt die neueste Veröffentlichung der Studienserie „Global Burden of Disease“ mit Blick auf das Jahr 2021.
Der Analyse zufolge haben Schlaganfälle, Hirnschädigungen bei Neugeborenen, Migräne, Demenzerkrankungen und Nervenschäden durch Diabetes am stärksten zur globalen Last durch neurologische Erkrankungen beigetragen. Die Studie mit Jaimie Steinmetz von der University of Washington in Seattle als Hauptautorin ist im Fachjournal „The Lancet Neurology“ erschienen.
Was ist Neurologie?
Die Neurologie ist in Teilgebiet der Medizin und beschäftigt sich mit der Diagnostik, Therapie und Rehabilitation von Erkrankungen des Nervensystems. Mehr als 100 Milliarden Nervenzellen steuern unsere Bewegung, unsere Sprache, unser Denken und Fühlen.
Die Experten für Erkrankungen oder Störungen dieser komplexen Vorgänge sind die Neurologen. Sie behandeln Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson, Epilepsien und Multiple Sklerose, Migräne und Schlafstörungen.
Forscher haben bisher mehr als 3000 Typen von Hirnzellen ermittelt, die im Gehirn in ihren Funktionen voneinander abweichen. Aufgrund dieser Erkenntnisse haben sie bislang umfangreichsten Zellatlas des menschlichen Gehirns erstellt. Die Aktivitäten für den Hirnatlas sind im weltweiten Projekt BICCN (Brain Initiative Cell Census Network) gebündelt.
Fallzahlen um 59 Prozent seit 1990 gestiegen
Insgesamt seien die Fallzahlen für Erkrankungen des Nervensystems seit 1990 weltweit um 59 Prozent gestiegen, wird Steinmetz in einer Mitteilung des Fachjournals zitiert.
Die internationale Autorengruppe wertete wissenschaftliche Studien aus, die zwischen Januar 1980 und Oktober 2023 zu diesem Thema erschienen sind. Für den Zeitraum 1990 bis 2021 wurden zudem Entwicklungstendenzen bei einzelnen Krankheiten analysiert.
Verlorene, gesunde Lebensjahre
Eine Kernmethode der Studien zum „Global Burden of Disease“ ist das Daly-Konzept. Daly steht für „Disability-adjusted life years“, zu Deutsch etwa: „verlorene gesunde Lebensjahre“. Dabei werden die Jahre, die ein Mensch durch eine Krankheit behindert oder eingeschränkt ist, sowie krankheitsbedingte Tode einem fiktiven gesunden Leben bis zum Alter der Lebenserwartung gegenübergestellt.
Wie die aktuelle Arbeit beschreibt, ist die Anzahl der Dalys durch 37 berücksichtigte neurologische Krankheiten von 375 Millionen im Jahr 1990 auf 443 Millionen Jahre 2021 gestiegen.
Nervenschädigungen durch Krankheiten
Allerdings ist die Weltbevölkerung in dieser Zeit gewachsen und durchschnittlich älter geworden. Wenn dies statistisch berücksichtigt wird, sind die durch neurologische Erkrankungen verursachten Dalys seit 1990 um 27 Prozent und die Todesfälle um 34 Prozent zurückgegangen – eine Entwicklung, die sich mit Blick auf einzelne Krankheiten sehr unterschiedlich darstellt.
So sind mit der globalen Ausbreitung von Diabetes die mit der Krankheit verbundenen Nervenschädigungen im Untersuchungszeitraum um 92 Prozent gestiegen. Auch neurologische Erkrankungen durch Sepsis bei Neugeborenen (+ 70 Prozent) und Malaria (+ 54 Prozent) sind deutlich häufiger geworden.
Andererseits sind die Dalys durch Schlaganfälle (-39 Prozent), Meningitis oder Hirnhautentzündung (- 62 Prozent), Tollwut (- 70 Prozent) und Tetanus (- 93 Prozent) erheblich zurückgegangen.
Ungleiche Verteilung in der Welt
Ein weiterer Befund der Arbeit: Die neurologischen Krankheitslasten sind in der Welt sehr ungleich verteilt. Am geringsten sind sie in einkommensstarken Ländern im Asien-Pazifik-Raum, etwa Japan und Südkorea, sowie Australien und Neuseeland, am größten in West- und Zentralafrika.
Der weltweite Durchschnitt liegt bei 5637,6 Dalys und 139 Todesfällen pro Jahr und 100 000 Menschen. Deutschland steht mit 3299,4 Dalys und 71,7 Todesfällen pro Jahr und 100 000 Menschen deutlich besser da. Hier wirkt sich vermutlich die bessere medizinische Versorgung im Vergleich zu weiten Teilen der Welt aus.
Arme Länder überproportional betroffen
„Der Gesundheitsverlust durch Krankheiten des Nervensystems betrifft viele der ärmsten Länder überproportional, was teilweise auf die höhere Verbreitung von Erkrankungen bei Neugeborenen und Kindern unter fünf Jahren zurückzuführen ist“, sagt Tarun Dua von der Weltgesundheitsorganisation WHO, eine weitere Autorin der Studie.
Denn viele der erstmals betrachteten Krankheiten betreffen vor allem Kinder, deren Fälle etwa 18 Prozent der neurologischen Erkrankungen weltweit ausmachen. Die gravierendsten Erkrankungen waren dabei Hirnschädigungen bei Neugeborenen, Meningitis und Schädigungen des Neuralrohrs.
Geschlechtsspezifische Unterschiede
Auch zwischen den Geschlechtern sind die Häufigkeiten der neurologischen Erkrankungen ungleich verteilt. Während von Covid-19, Multipler Sklerose und Migräne erheblich mehr Frauen als Männer betroffen sind, ist es bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, bei traumatischen Hirnschädigungen und bei der Autismus-Spektrum-Störung genau umgekehrt.
In der Studie wird auch auf mehrere beeinflussbare Risikofaktoren für potenziell vermeidbare neurologische Erkrankungen eingegangen. Durch Beseitigung der wichtigsten Risikofaktoren – vor allem hoher Blutdruck und Luftverschmutzung – könnten so etwa bei Schlaganfällen bis zu 84 Prozent der Dalys vermieden werden.
Neurologische Erkrankungen rauben der Menschheit Humankapital
„Neurologische Erkrankungen verursachen großes Leid für die betroffenen Menschen und Familien und berauben Gemeinschaften und Volkswirtschaften ihres Humankapitals“, kommentiert WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus die Ergebnisse in einer Mitteilung.
„Diese Studie sollte ein dringender Aufruf zum Handeln sein, um gezielte Interventionen zu verstärken, damit die wachsende Zahl von Menschen mit neurologischen Erkrankungen Zugang zu der qualitativ hochwertigen Pflege, Behandlung und Rehabilitation erhält, die sie benötigt.“