Der verurteilte Arzt Christoph Turowski (l) und sein Anwalt im Gerichtssaal 500 des Kriminalgerichts Moabit. Foto: Jörg Carstensen/dpa

Jahrelang leidet eine Frau an einer schweren Depression. Sie sieht keinen Ausweg und bittet einen Arzt um Sterbehilfe. Aus Sicht der Richter hat dieser zulässige Grenzen überschritten.

Berlin (dpa)  - Er hat einer schwer depressiven Frau beim Sterben geholfen - und aus Sicht der Richter dabei Grenzen überschritten. In einem umstrittenen Sterbehilfe-Fall hat das Berliner Landgericht einen Arzt zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt. Es sprach den 74-Jährigen wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft schuldig. Der Mediziner habe "die Grenzen des Zulässigen überschritten", sagte der Vorsitzende Richter Mark Sautter.

Nach Überzeugung des Gerichts war die 37-jährige Frau wegen ihrer Depression zu einer "vollständig rationalen Entscheidung" krankheitsbedingt nicht in der Lage. Ihr Entschluss sei nicht von der erforderlichen "innerlichen Festigkeit und Dauerhaftigkeit" getragen gewesen. 

Suizid nur wenige Wochen nach Kontaktaufnahme

Die Studentin der Tiermedizin hat dem Urteil zufolge Anfang Juni 2021 Kontakt zu dem Arzt aufgenommen. Knapp zwei Wochen später stellte der Mediziner ihr die tödlich wirkenden Tabletten zur Verfügung, die sie jedoch erbrach. Am 12. Juli 2021 legte der Arzt dann der 37-Jährigen in einem Hotelzimmer eine Infusion mit einem tödlich wirkenden Medikament. Diese hat die Frau laut Urteil selbst in Gang gebracht - und starb wenig später.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Der Arzt Christoph Turowski, der einer Sterbehilfeorganisation angehört, zeigte sich enttäuscht und kündigte Rechtsmittel an. "Ich denke, der Wille auf einen Freitod bei psychischen Leiden ist hier nicht genügend berücksichtigt worden." Er sehe "eine Diskriminierung dieser Menschengruppe". Aus seiner Sicht habe er im Fall der 37-Jährigen richtig gehandelt. Er habe bei ihr "die große seelische Not und die Entschlossenheit" gesehen, notfalls einen Gewaltsuizid zu begehen. An der "Urteils- und Entscheidungsfreiheit" der Frau habe er zu keinem Zeitpunkt gezweifelt. Allerdings werde er sich künftig in einem solchen Fall "absichern und es auf breite Schultern lagern". 

Sein Verteidiger hatte im Plädoyer kritisiert, dass eine gesetzliche Regelung bislang fehlt. Auch aus Sicht der Deutschen Stiftung Patientenschutz ist eine gesetzliche Klarstellung nötig. "Es gilt, das Handeln des einzelnen Sterbehelfers strafrechtlich in den Blick zu nehmen. Sein Tun erfordert höchste Sachkunde", so Vorstand Eugen Brysch.

Der Mann war früher 30 Jahre als Hausarzt in Berlin tätig, 2015 hat er nach eigenen Angaben seine Praxis abgegeben. In einem früheren Prozess um Sterbehilfe ist der 74-Jährige freigesprochen worden. In dem Fall ging es um eine Frau, die an einer chronischen Darmerkrankung litt. Der Patientenwille sei zu achten, hieß es im März 2018 im Urteil, das der Bundesgerichtshof (BGH) später bestätigte.

Gesetzliche Regelung zu Sterbehilfe fehlt

In Deutschland hat jeder Mensch das Recht, frei über seinen Tod zu entscheiden. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit seinem Urteil 2020 klargestellt. Aktive Sterbehilfe ist verboten. Um Regelungen zu einer assistierten Sterbehilfe wird seit Jahren gerungen. Richter Sautter verwies bei der Urteilsbegründung auf die bisherige Rechtsprechung des BGH, wonach Sterbehilfe zulässig sei - allerdings "unter der Voraussetzung der Freiverantwortlichkeit". 

Aus Sicht des Gerichts hätte der Berliner Mediziner den Fall kritischer prüfen müssen. "Er traute sich zu nach eineinhalb Stunden Gespräch die Freiverantwortlichkeit einzuschätzen. Das halten wir für hochproblematisch", so Sautter. Ein psychiatrisches Gutachten habe die Frau aus finanziellen Gründen, und weil dies aus ihrer Sicht zu lange gedauert hätte, abgelehnt, hatte der Arzt im Prozess geschildert. 

Kommunikation belegt Hin- und Herschwanken

Das Gericht betonte, es sei keine Frage der Diskriminierung psychisch Kranker. Bei dem ersten Versuch am 24. Juni 2021 ist aus Sicht des Gerichts nicht auszuschließen, dass die Frau frei verantwortlich gehandelt hat. Deshalb wurde der Arzt von dem Vorwurf eines ebenfalls angeklagten versuchten Totschlags freigesprochen. 

Im zweiten Fall sei das anders, so das Gericht. Nach dem gescheiterten Versuch kam die Frau in eine psychiatrische Klinik. Danach schwankte sie ständig hin und her zwischen dem Willen sterben zu wollen und im Weiterleben einen tieferen Sinn zu erkennen. Dies geht aus der Kommunikation zwischen dem angeklagten Mediziner und der 37-Jährigen hervor, die das Gericht teilweise verlas. 

Noch am Morgen des Todes habe sie ihren Suizidwunsch erneuert - "28 Minuten später ein Meinungsumschwung". "Das zeigt deutlich, wie labil sie emotional war", so der Richter. Aus Angst vor einem erneuten Fehlschlag habe sie den Arzt gebeten, im Notfall nachzudosieren. Dies habe ihr der Angeklagte zugesichert. Damit hat er nach Überzeugung des Gerichts unmittelbar Einfluss auf die Entscheidung der Frau genommen - unabhängig davon, ob er tatsächlich aktiv eingegriffen hätte. 

Das Gericht hielt dem Arzt zugute, dass er aus altruistischer Motivation gehandelt und das Geschehen umfassend gestanden habe. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten gefordert, die Verteidigung Freispruch. 

Haftstrafe auch für Mediziner in NRW

Anfang Februar war ein Arzt in einem ähnlich gelagerten Fall zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Das Landgericht Essen sprach den Mediziner des Totschlags schuldig. Der 81-Jährige hatte einem psychisch kranken Mann aus Dorsten im August 2020 eine tödliche Infusion gelegt. Das Ventil hatte der 42-Jährige anschließend selbst geöffnet. Laut Urteil war der Patient aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung jedoch nicht in der Lage, die Tragweite seines Handels zu erfassen und frei verantwortlich zu entscheiden. 

Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) gab es 2023 insgesamt 419 Fälle, in denen Mitglieder der Gesellschaft beim Suizid begleitet wurden. Das seien deutlich mehr gewesen als 2022 (229). Laut DGHS wurden 34 Anträge von Menschen mit psychiatrischer Vorgeschichte abgelehnt. Die Helfenden seien nur bei wenigen Personen überzeugt gewesen, dass es sich um eine frei verantwortliche Entscheidung gehandelt habe.