Milei wettert gern gegen die etablierten Parteien – und ist damit bei den Vorwahlen erfolgreich gewesen. Foto: AFP/Luis Robayo

Javier Milei genießt den großen Rückhalt der jungen Generation in Argentinien. Nun greift der Exzentriker – von manchen als argentinischer Trump bezeichnet – nach der Präsidentschaft.

Javier Milei liebt den Überraschungseffekt. Deswegen kündigt er seine Wahlkampfauftritte in den armen Stadtvierteln von Buenos Aires nicht an, sondern fährt einfach hin. Dort, wo die Not am größten ist, in einem Land mit 40 Prozent Armutsrate, einer Inflation von über 100 Prozent und einer Wirtschaftskrise, die zum Dauerstand geworden ist. In den „Villas“, den Armenvierteln, in denen das Geld trotz harter Arbeit nicht mehr reicht, die Familie durchzubringen, und die Schlangen vor den Armenspeisungen immer länger werden.

Zuletzt kam es angesichts der prekären Wirtschaftslage zu Plünderungen. Supermärkte werden ausgeräumt, Lebensmittel gestohlen. Für die arme Bevölkerung ist die Lage im Land schlicht unerträglich geworden. „Die Kaste hat Angst vor uns“, ruft Milei dann den überraschten Menschen zu. Die Kaste, das ist für Milei die herrschende politische Klasse. Schnell bilden sich Menschentrauben, gibt es Tumult. Das wiederum gibt spektakuläre Bilder für die sozialen Netzwerke. Milei hat verstanden, wie Instagram, X (früher Twitter) und Tiktok funktionieren.

Javier Milei spielt mit Tabus und ist schwer einzuordnen

Vor allem die Jugend, die seit Jahren diesen ökonomischen Horrorfilm durchlebt und der jegliche Zukunftsperspektive fehlt, jubelt ihm zu. Für sie ist der Mann, der im Fernsehen und bei ihnen auf der Straße gegen die Eliten wettert, ein Hoffnungsträger. Einer, der ihnen verspricht, das mit seinem Konzept alles besser wird, es doch eine Zukunft gibt. Nun folgen ihm immer mehr.

Seit seinem Sieg bei den Vorwahlen in Argentinien wird Javier Milei (52) auch international wahrgenommen. Er wird mal als Rechtsextremer, Ultrarechter, Exzentriker, Anarchokapitalist, Marktradikaler, Rechtsliberaler bezeichnet. Das zeigt, wie schwer dieser Mann einzuordnen ist, der mit Tabus spielt, Widersprüche und Provokationen liebt und somit immer neue Schlagzeilen und Aufmerksamkeit generiert. Mexikos linkspopulistischer Präsident Andrés Manuel López Obrador vergleicht seinen Aufstieg mit dem Hitlers in Deutschland in den 1930er Jahren, der ebenfalls von einer schweren Wirtschaftskrise profitiert habe.

Auf seine aggressiven Reden als Talkshow-Gast im Fernsehen angesprochen, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung: „Wenn ich beleidigt oder angegriffen werde, dann verteidige ich mich.“ Allerdings beleidigt Milei auch, wenn er nicht angegriffen wird. Es sind diese Wutausbrüche gegen die bislang dominierenden politischen Kräfte, den linksgerichteten Peronismus und den rechtsgerichteten Konservatismus, die ihn populär gemacht haben. Beide Lager werden von der Bevölkerung für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht.

„Sozialismus ist Feind der Menschheit“

Milei macht mit dieser Gangart auch sehr vielen Menschen Angst, dass mit ihm das gesellschaftliche Klima in Wut und Hass abstürzen könne. Doch der Outsider befindet sich im Wahlkampf in einer komfortablen Lage, denn die bislang herrschenden Eliten haben ein Trümmerfeld hinterlassen. Der Peronismus durch den Aufbau eines übergroßen staatlichen Bürokratie-Apparates mit Angestellten, die das richtige Parteibuch haben. Der Konservatismus für den Abschluss eines Milliardenkredites mit dem Internationalen Währungsfonds, unter dessen Rückzahlung des Land zusammenbricht. Milei ist zum Chefkritiker der beiden Lager aufgestiegen und unbelastet von dieser Vergangenheit. Er reiht sich selbst ein in die Reihe der Jair Bolsonaros und Donald Trumps: „Auch wenn es Unterschiede gibt, unsere Gemeinsamkeit ist, dass wir den Sozialismus als Feind der Menschheit identifizieren.“ Anders als die beiden Rechtspopulisten aus Brasilien und den USA ist der Wirtschaftswissenschaftler Milei allerdings in der Lage, aus dem Stand einen analytischen detaillierten Vortrag über die Wirtschaftskrise in Argentinien zu halten.

Radikaler Abtreibungsgegner

Milei greift die an, die oben stehen. Auch seinen Landsmann Papst Franziskus. Als der Argentinier auf dem Kirchenthron die Unternehmensbesteuerung lobte, twitterte Milei: „Dein Modell ist die Armut.“ Wieder eine sichere Schlagzeile. „Papst Franziskus ist im Grunde ein Gegner des Privateigentums“, erklärt Milei seine kritische Haltung. „Dabei ist Privateigentum für das Funktionieren des Preissystems unerlässlich.“ Das Preissystem Wohlstand schaffe den Wohlstand. „Sie werden nur dann investieren, wenn Sie die Früchte Ihrer Arbeit verdienen können. Wenn jemand das Privateigentum infrage stellt, werden Sie nicht wachsen, Sie werden nicht investieren. Wenn man also die Rolle des Eigentums infrage stellt, führt das nur dazu, dass man in Armut versinkt.“ Eigentum ist das, was sich die Jugend wegen der hohen Inflation praktisch nicht erarbeiten kann, deswegen fallen Mileis Worte auf fruchtbaren Boden. Der Staat und die Politik bestehle die Menschen durch Besteuerung.

In einer anderen Frage, die ebenso polarisiert, überrascht der ehemalige Tantra-Lehrer für freie Liebe: „Das Leben beginnt im Moment der Empfängnis und endet mit dem Tod, das Leben ist also ein Kontinuum mit zwei Sprüngen, der Empfängnis und dem Tod, jede Unterbrechung dazwischen ist Mord. Ich bin nicht für Mord, Abtreibung ist Mord.“ Der Liberalismus sei der uneingeschränkte Respekt vor dem Lebensentwurf anderer, also die Verteidigung des Rechts auf Leben, Freiheit und Eigentum. „Das, was sich im Körper der Mutter befindet, ist nicht der Körper der Mutter, sondern ein anderes menschliches Wesen in Entwicklung.“ Milei will darüber in einem Referendum entscheiden lassen, Frauenbewegungen kündigen erbitterten Widerstand an. In Lateinamerika ist Abtreibung allerdings deutlich umstrittener als in Westeuropa.

Lederjacke, Wuschelfrisur und Rocker-Attitüde

Der Mann mit Lederjacke, Wuschelfrisur und Rocker-Attitüde spricht sich für eine totale Deregulierung des Marktes aus. Die Kräfte des Marktes sollen sich entfalten: „In dieser Freiheit entdecken die Menschen Möglichkeiten und schaffen Wohlstand.“ Die Entfesslung der Wirtschaft, die radikale Reduzierung des Staates ist seine Kernbotschaft. Milei wirbt für das Recht auf privaten Waffenbesitz zur Selbstverteidigung und die Einführung des US-Dollars, der den schwachen Peso ersetzen soll. Er zweifelt an der Existenz des menschengemachten Klimawandels und glaubt an natürliche Temperaturzyklen. Außenpolitisch will Milei die Beziehungen zu China abbrechen, mit dem nun links regierten Brasilien unter Lula verbindet ihn gar nichts. Von der Handelsunion Mercosur hält er ebenfalls wenig.

Die Milei-Partei La Libertad Avanza holte bei den Vorwahlen 30,6 Prozent der Stimmen. Die Vorwahlen bieten allerdings auch die Chance einer relativ folgenlosen „Protestwahl“. Ob aus der Wut auch die Bereitschaft wird, Milei tatsächlich die Verantwortung über das Land in die Hände zu legen, ist eine ganz andere Frage. Das argentinische Wahlprozedere ist kompliziert und besteht aus der Kandidatenkür bei den Vorwahlen, den eigentlichen Präsidentschaftswahlen am 22. Oktober und schließlich einer wahrscheinlichen Stichwahl am 19. November. Entscheidend wird sein, welche Kandidaten es in die Stichwahl schaffen. Milei könnte dabei entweder auf die konservative Hardlinerin Patricia Bullrich oder auf den Vertreter des linksperonistischen Lagers um Sergio Massa treffen. Sicher ist nur: Milei wird zur dominierenden Medienfigur des Wahlkampfes.