Stephan Lamby (li.) und Robert Habeck auf dem Rückflug von Singapur Foto: SWR/Kay Nietfeld/dpa

Der vielfach preisgekrönte Dokumentarfilmer Stephan Lamby hat die deutsche Regierung durch die Ukraine-Krise begleitet. Doch sein Film „Ernstfall – Regieren am Limit“ , der jetzt in der ARD zu sehen ist, lässt viele Fragen offen.

Die Losung der Friedensbewegung – „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“ – hat in den siebziger und achtziger Jahren, als man sich einer sogenannten Gewissensprüfung unterziehen musste, um den Wehrdienst verweigern zu können, große Teile einer Generation geprägt. Jahrzehnte später führen die Mitglieder dieser Generation das Land.

Unversehens tauchen die alten Fragen in abgewandelter Form wieder auf: Stell dir vor, Russland überfällt ein unschuldiges Nachbarland, das sich Richtung Westen orientiert und Mitglied der Nato werden möchte. Sind wir nicht verpflichtet, ihm zu helfen? Wolfgang Schmidt, Jahrgang 1970, hat einst den Kriegsdienst verweigert, aber keine Sekunde lang daran gezweifelt, dass Deutschland der Ukraine helfen sollte.

Der Zauber zerschellt an der Realität

Schmidt, Chef des Kanzleramts, ist einer der wenigen in diesem Dokumentarfilm, der in seine Seele blicken lässt. Stephan Lamby, dutzendfach ausgezeichnet (unter anderem mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis), hat die Bundesregierung durch die mittlerweile gut eineinhalb Kriegsjahre begleitet. Seine Langzeitbeobachtung beginnt im Dezember 2021: Olaf Scholz verabschiedet Vorgängerin Angela Merkel. Christian Lindner spricht von „großer Verantwortung“, Robert Habeck von „wilder Entschlossenheit“, Annalena Baerbock verweist auf Hermann Hesse: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Dieser Zauber zerschellte alsbald an der russischen Realität.

Was die Regierenden besprechen, ist nicht zu hören

Im SWR-Pressetext zum Film heißt es, Lamby blicke hinter die Kulissen. Das stimmt zwar, weil er auch dort zugegen sein durfte, wo Kameras normalerweise nicht zugelassen sind. Aber bevor es in den Krisensitzungen und Gesprächen unter sechs Augen richtig losging, ist er offenbar hinauskomplimentiert worden. Typisch dafür ist eine Szene während des Rückflugs vom Nato-Gipfel: Scholz, Baerbock und Boris Pistorius stecken im Regierungsflieger die Köpfe zusammen, aber was sie besprechen, ist nicht zu hören. Als gleichfalls allzu vollmundig erweist sich die Ankündigung, die Akteurinnen und Akteure redeten „ungewöhnlich offen über ihre Motive und Gefühle“: Die Statements, die die Kabinettsmitglieder in die Kamera abgeben, gleichen den gewohnten sorgsam formulierten Aussagen.

Wer sich für Politik interessiert, wird in den 75 Minuten nicht viel Neues erfahren. Trotzdem ist es natürlich spannend, die Ereignisse dieser 18 Monate im Zeitraffer zu erleben, zumal sich Lamby nicht allein auf die Folgen des Überfalls auf die Ukraine beschränkt.

Was ist alles liegen geblieben?

So darf zum Beispiel eine Aktivistin der Letzten Generation die Motive für die Aktionen der Gruppe erläutern. Das wiederum wirft die Frage auf, was denn mit all den anderen Themen ist, für die das Kabinett vor lauter Diskussionen über Waffenlieferungen und Energiekrise wohl keine Zeit mehr hatte: Verkehrswende, Digitalisierung, Wohnungsmangel, Bildungsmisere, Bürokratieabbau; schließlich hängt doch, wie es in Verschwörungserzählungen gern heißt, alles mit allem zusammen.

Im permanenten Ausnahmezustand

Immerhin verdeutlicht der Film, unter welch erheblichem Druck die Bundesregierung angesichts des permanenten Ausnahmezustands stand. Dennoch bleiben nicht nur thematisch erhebliche Leerstellen. Die offenkundigste ist der permanente Zwist zwischen den Grünen und der FDP. Die beiden Galionsfiguren Lindner und Habeck verzichten zwar auf Spitzen, aber subkutan ist das gegenseitige Misstrauen dennoch spürbar, als sie zum Beispiel über den Streit über das Heizungsgesetz sprechen, das im Entwurf an die Medien durchgesteckt wurde. Wenn die beiden doch im selben Boot sitzen, warum rudern sie nicht auch in die gleiche Richtung? Womöglich hat Lamby diese Frage ja gestellt und sie ist bloß nicht beantwortet worden – auch das wäre eine Nachricht. Und noch ein Aspekt kommt nicht vor, obwohl er kurzfristig womöglich wichtiger ist als die Energiefrage: Wie wollen die Regierungsmitglieder verhindern, dass die faschistischen Strömungen im Land noch mehr Zulauf bekommen?

Verzicht auf jeglichen Kommentar

Respekt gebührt dem Regisseur allerdings für seinen Verzicht auf einen Kommentar. Aus dem Off eingespielte Ausschnitte aus Nachrichtensendungen sowie gelegentliche Schrifttafeln liefern die nötigen Basisinformationen. Ausgewählte Journalistinnen und Journalisten analysieren die allgemeine politische Lage und betten die Auslandsreisen von Baerbock, Scholz und Habeck in einen größeren Rahmen. Trotzdem bleibt als typisches Bild für diesen Film vor allem in Erinnerung, wie die Regierungsmitglieder am Fenster stehen und sinnend in die Ferne blicken. Prompt drängt sich das berühmte Zitat aus der TV-Serie „Akte X“ auf: „Die Wahrheit ist irgendwo da draußen.“

Ernstfall – Regieren am Limit: Montag, 20.15 Uhr, ARD