Theo Waigel, ehemaliger CSU-Chef und Bundesfinanzminister. Foto: dpa - dpa

Theo Waigel spricht im EZ-Interview über die Kontakte zu SED-Politikern und das "Freikaufen" der DDR-Bürger mit Orangen.

Theo Waigel, ehemaliger CSU-Chef und Bundesfinanzminister hat der Familie unseres Autors bei der Ausreise aus der DDR geholfen, deren Geschichte und die Folgen - vom Antrag bis zur Genehmigung - der Redakteur hier erzählt. Im EZ-Interview spricht der bayerische Politiker über die Treffen mit den SED-Kollegen und erzählt, warum Orangen und Bananen durchaus als "Freikauf"-Währung zählen.

Wie viele solcher Ausreiseanfragen haben Sie damals erreicht?

Solche Anfragenkamen immer wieder regelmäßig, manchmal in Schüben. Die Leute haben mich auch in der DDR direkt angesprochen. 1987 war ich zum Beispiel mit Franz-Josef Strauß auf der Messe in Leipzig – und selbst dort wurden uns, trotz aller Abschirmung, Briefe in die Hand gedrückt oder wir wurden um Hilfe gebeten. Strauß hat sich um jeden Brief bemüht. Wir wollten die Chance nutzen, den Menschen zu helfen, die unschuldig im Knast waren, nicht mehr in der DDR leben konnten oder wollten.

Wie war das Procedere, nachdem Sie eine Bitte erhalten haben?

Ich habe mir jeden Brief genau angeguckt. Das war ein Unterschied zu den sonstigen Schreiben, die ich im Wahlkreis bekommen habe. Denn hier ging es um Schicksale. Das hat mich sehr bewegt, auch innerlich. Ich habe dann mein Mögliches versucht, das Anliegen an die richtige Stelle weiterzutragen. Nachdem Strauß 1983 einen Milliardenkredit für die DDR eingefädelt hatte, hatten wir als CSU ein besonderes Standing in der DDR, weshalb unseren Ansinnen stärker nachgekommen wurde.

Nach welchen Kriterien sind die Personen, denen man konkret geholfen hat, „ausgesucht“ worden?

Die Kriterien haben nicht wir bestimmen können, das hat die DDR gemacht. Wir haben Wünsche geäußert und auf das jeweils Tragische hingewiesen – wie Krankheit oder dass Familien auseinandergerissen wurden. Im Westen war es so, dass man versucht hat, jeden Fall weiterzugeben. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass von BRD-Seite her jemand sozusagen ausgemustert wurde. Man hat aber manchmal priorisiert – je nach Schwere des Falles.

Inwiefern waren die DDR-Bürger auch angewiesen auf Unterstützer in deren Umfeld?

Sehr. Wir konnten ja von hier aus nicht wissen, wem es besonders schlecht ging, welches Schicksal besonders schlimm war. Wir haben das nur aus Schilderungen erfahren und von Menschen, die das erlebt haben. Bis hin, dass Wolf Biermann zum Beispiel offen darüber geschrieben hat.

Wie liefen die Treffen mit den SED-Funktionären ab, mit Erich Honecker und Co.?

Ich hatte solche Gespräche erstmals in den 1980er-Jahren. Da haben mich Günter Mittag und andere in Bonn besucht. Ich war enttäuscht und erschüttert, dass sie von ökonomischen Dingen keine Ahnung hatten. 1985 war ich mit Strauß und mit meiner Familie in Ostberlin, Leipzig, Dresden und Weimar. Dabei bin ich vielen Menschen begegnet. Laut meiner Stasiakte wurden dafür 120 Stasimitarbeiter abgestellt, um mich zu beobachten. Es gab detaillierte Berichte. Plump und dumm wurde ich bespitzelt, und wenn ein IM meine Westmark genommen hat, kam das im Bericht nicht vor. Auch bei dieser Reise sind Menschen auf mich zugekommen mit ihren Ausreisewünschen. Die Gaststätte eines Wirtes ist dann am nächsten Tag komplett von der Stasi umgepflügt worden. Bei den Treffen mit den SED-Funktionären habe ich die Wünsche direkt angesprochen. Man konnte die Liste mit den Namen direkt übergeben – mit dem Hinweis: „Wir wären ihnen dankbar, wenn sie die Leute prüfen könnten, die liegen uns besonders am Herzen.“ Zielführender als normaler Abgeordneter war es aber, die Fälle über das gesamtdeutsche Ministerium weiterzuleiten.
Schließlich erwartete die DDR ja immer eine Gegenleistung, nämlich Geld – und das konnte ein normaler Abgeordneter nicht versprechen.

Was ist an der Geschichte dran, dass die Menschen auch mit Orangen bezahlt wurden?

Die Menschen aus der DDR zu holen, war ein wichtiges und notwendiges Programm, das abseits der Öffentlichkeit geschah. Als ich dann Finanzminister geworden bin, habe ich festgestellt, dass das „Freikaufen“ jeweils 100000 Mark gekostet hat. Das war mir davor nicht bewusst, weil alles im gesamtdeutschen Ministerium abgelaufen ist. Man musste zudem die Diskretion wahren, weil man die Menschen sonst in Gefahr gebracht hätte. Indirekt wurden die Ausreisenden auch mit Früchten bezahlt. Mittels der Devisen hat sich die DDR-Spitze nämlich auch Wohlwollen in der Bevölkerung erkauft, zum Beispiel indem sie eben Orangen oder Bananen besorgt hat.

Wie sehr haben Sie die einzelnen Fälle beschäftigt?

Es tat einem weh. Da war es wichtig, dass es immer wieder Leute gab – auch im intellektuellen Milieu – die an der Einheit Deutschlands festhielten und sagten: Gebt diese Idee niemals auf. Denn wir können nicht alle rauskaufen. Reiner Kunze und Martin Walser zum Beispiel.

Haben Sie manchmal Déjà-vus in Beziehung auf die heute Migrationsdebatte?

Ich denke mir nur eines: Von 1949 bis 1989 sind Millionen Menschen von Ost nach West gekommen. Die haben der DDR gefehlt und dem Wirtschaftsaufschwung im Westen gutgetan. Wenn man heute die Kosten der Wiedervereinigung betrachtet – immerhin mehr als 2,5 Billionen Euro in den letzten 28 Jahren, dann muss man fairerweise auch in Rechnung stellen, was die immigrierten Ostdeutschen für das Bruttoinlandsprodukt des Westens geleistet haben. Die Integration der Ostdeutschen ist darüber hinaus relativ gut gelungen. Darum sollten wir auch bei der jetzigen Integration nicht mutlos sein und nicht in Reflexe zurückfallen, die nicht der Menschlichkeit genügen.

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