Ein Stück über die Hofnachfolge hat das Theater Lokstoff auf dem Pappelhof in Ruit entwickelt. Die Landwirtin Liesel Illi freut sich über diese Wertschätzung – und auch die Eselstuten spielen in dem Stück eine Rolle.
Mit ihren Eselstuten Larissa und Frida geht die Landwirtin Liesel Illi sonntags auf den Wiesen rund um Ruit spazieren. „Da erhole ich mich von der anstrengenden Arbeit auf dem Gemüsefeld“, sagt die 66-Jährige, die den Pappelhof mit ihrem Mann Manfred führt. Weil ihre Kinder sich für andere Berufswege entschieden haben, wird das Ehepaar den Betrieb in absehbarer Zeit aufgeben. Die Zukunft ist ungewiss. Über das Thema Hofnachfolge und Erben hat das Theater Lokstoff nun ein Stück entwickelt. Die Produktion hat am Donnerstag, 19. Oktober, um 19 Uhr in einer Scheune in der Keplerstraße 32 Premiere.
„Wir wollen mit unserem Theater im öffentlichen Raum raus aufs Land“, sagt Wilhelm Schneck, der bei der Produktion Regie führt. 2003 gründete er gemeinsam mit Kathrin Hildebrand das Theater Lokstoff, das seine Produktionen an ungewöhnlichen Spielorten wie dem Flughafen, einem Einrichtungshaus oder in einem großen Mietlager zeigt. Die Produktion „7 Hertz vor der Stadt“ untersucht nach den Worten des Regisseurs und künstlerischen Leiters die Stadt-Land-Problematik. Da zeigten sich Risse in der Gesellschaft.
Schwere Arbeit auf den Feldern
Dass gerade kleinere landwirtschaftliche Betriebe immer mehr zu kämpfen haben, bestätigt Liesel Illi: „Unser Arbeitsalltag wird immer schwieriger.“ Weil die Felder bestellt werden müssen, verzichten sie und ihr Mann seit Jahrzehnten auf Urlaub. Nicht nur die Ernte ist für den 66-jährigen Bauern und seine Frau ein Kraftakt. „Es gibt das ganze Jahr etwas zu tun“, sagt Liesel Illi. Zwar liebt die Landwirtin ihren Beruf und den Gemüseanbau „im Wandel der Jahreszeiten“. Doch inzwischen habe sie gesundheitliche Probleme. Mit den Kindern hat das Ehepaar zwar über die Hofnachfolge gesprochen. „Aber Kleinbetriebe wie unserer haben keine Zukunft.“ Da müsste man „größer einsteigen“, bedauert die Landwirtin. Aber dieses Risiko wollte die Familie nicht tragen.
Umso mehr freut Liesel Illi, „dass das Theater Lokstoff sich mit unseren Problemen beschäftigt“. Regisseur Wilhelm Schneck und sein Team haben zwar mit der Landwirtin viele Gespräche geführt und sich über ihre Situation informiert. Die Handlung des neuen Stücks ist aber fiktiv. „Die Esel spielen eine Rolle in der Handlung“, verrät Kathrin Hildebrand. Dass das Schauspielensemble auf dem Bauernhof zwischen Strohballen und landwirtschaftlichen Geräten probt, findet Liesel Illi spannend. Man komme sich nicht in die Quere. Sie freut sich, dass zu den insgesamt zehn Vorstellungen auch viele Gäste aus der Stadt auf den Pappelhof kommen, um sich ein Bild von der Landwirtschaft zu machen. Denn oft wünscht sich die 66-Jährige „mehr Wertschätzung und Sensibilität für unsere Arbeit.“
Immer wieder erlebe sie, dass sich Schülergruppen mit ihren Lehrern achtlos auf Wiesen stellen oder dass zum Beispiel Rapspflanzen auf den Feldern zertrampelt werden. Bei dem Selbstbedienungshofladen, den Liesel Illi betreibt, komme es zu Diebstählen: „Wir haben einen Abmangel von 20 Prozent.“ Das findet Liesel Illi enttäuschend. Viele machten sich nicht bewusst, „dass der Gemüsebau unsere Existenzgrundlage ist.“ In Kisten bietet sie Blumenkohl, Salate, Lauch und anderes Gemüse deutlich unter den Preisen auf dem Wochenmarkt an.
Respekt gegenüber der Landwirtschaft
Was den Respekt gegenüber der Landwirtschaft angeht, sieht Kathrin Hildebrand, die künstlerische Leiterin von Lokstoff, bei Menschen aus der Stadt Nachholbedarf. Da kaufe man das Gemüse im Supermarkt, denke wenig über den Anbau nach. Umso mehr genießt es die Schauspielerin, nach den Proben auf dem Pappelhof frisches Gemüse mitzunehmen: „Der Speiseplan richtet sich nach dem, was auf den Feldern wächst.“
Für Regisseur Wilhelm Schneck hat die Kluft zwischen Stadt und Land eine politische Dimension. „Ackerbau und Viehzucht auf dem Land bilden die Grundlage für unsere Städte.“ Da möchte das Schauspielensemble mit der Produktion einen neuen Blick erschließen. Wie eng Stadt und Land inzwischen verzahnt sind, zeigt sich in Ostfildern an der Stadtbahn nach Stuttgart. Die Haltestelle Ruit ist einen Kilometer vom Hof entfernt. Zwischen Wiesen und Feldern hinter den Ställen rollen gelbe Bahnwagen.
Unter dem riesigen Feigenbaum vor dem Tor zur Scheune, den Liesel Illi liebevoll hochgezogen hat, sitzt die Bäuerin derzeit immer mal wieder mit ihren Gästen aus Stuttgart. Der Austausch mit den Künstlerinnen und Künstlern gefällt ihr. Für zehn Vorstellungen wird ihr Bauernhof zur Bühne. Kathrin Hildebrand freut sich, dass die Stadt Ostfildern das Projekt genehmigt hat. Bis auf wenige Restkarten, die am Vorstellungstag zurückgegeben werden, sind die Theaterabende zwar schon ausverkauft. Doch das Theater Lokstoff würde im nächsten Jahr gerne weitere Vorstellungen spielen.
Theater im öffentlichen Raum
Seit 20 Jahren
Das Theater Lokstoff besteht seit 2003 als eingetragener gemeinnütziger Verein. Die künstlerischen Leiter Wilhelm Schneck und Kathrin Hildebrand haben das Kollektiv gegründet, das immer wieder neue Spielorte in der Stadt sucht.
In die Stadt hinein
Durch die Proben und Vorstellungen im öffentlichen Raum werden Menschen auf das Theater aufmerksam, die selten oder noch nie im Theater waren. Viele Menschen, die durch Zufall die Proben erleben, kommen als Publikum wieder.
Wechselnde Orte
Derzeit spielt das freie Theater auf dem Bauernhof in Ostfildern-Ruit, im Einrichtungshaus Behr in Stuttgart und in einem großen Lager gegenüber der Wilhelma. Weitere Informationen zum Kollektiv online unter: www.lokstoff.com