Marcel Nguyen ist nun kein Leistungssportler mehr – und hat Zeit für Spaziergänge mit Hündin Akira. Foto: dpa/Tom Weller

Gemeinsam mit Fabian Hambüchen und Philipp Boy hat Marcel Nguyen das deutsche Turnen über Jahre geprägt. Nun hört er mit Blick auf seine Gesundheit auf – und erzählt von einem schwierigen Thema während seiner Laufbahn.

Bevor er endgültig seine sportliche Karriere für beendet erklärte, gab sich Marcel Nguyen einer Tätigkeit hin, die ihn wohl auch künftig ein Stück weit ausfüllen wird. Vor dem Start der Pressekonferenz in einem Bürokomplex in Fellbach drehte der 35-Jährige noch schnell eine Runde mit Akira. Die Hündin ist mittlerweile treue Begleiterin Nguyens – und durfte dann auch zuhören, als das Herrchen bedeutungsschwangere Sätze sprach.

„Ich habe alles versucht“, sagte Marcel Nguyen, „aber ich bin an einem Punkt angelangt, an dem es keinen Sinn mehr ergibt.“ Der Kopf hat noch gewollt, „aber mein Körper hat nicht mehr mitgemacht“. Und so beendet der Turner nun seine sportliche Karriere. Oder besser: noch viel mehr. „Es ist mein bisheriges Leben, das ich jetzt beende“, sagte er – und reiht sich damit ein in die Riege seiner prominenten Mitstreiter.

Philipp Boy, Fabian Hambüchen, Marcel Nguyen – alle drei sind im Jahr 1987 geboren und haben das deutsche Turnen über Jahre geprägt. Sie haben Medaillen gewonnen, Fans begeistert, als Vorbild gedient. Nun ist das Trio sportlich Vergangenheit. „Ich kann“, sagte Marcel Nguyen trotz den nicht zu übersehenden Abschiedsschmerzes, „die große Bühne mit einem guten Gefühl verlassen.“ Aber eben auch: nicht ganz freiwillig.

Gerne wäre der immer noch jugendlich wirkende Mann mit den asiatischen Wurzeln mit einem sportlichen Höhepunkt abgetreten. Wie etwa Hambüchen es geschafft hat – als Olympiasieger am Reck. „Dieses Glück haben aber nicht alle“, sagte Nguyen. Der dennoch wusste: Eine Alternative zum geordneten Rückzug aus dem Spitzensport gibt es nicht mehr.

Das Handgelenk macht immer noch Probleme

Erst war es die Schulter, dann das Knie, das schon zwei Kreuzbandrisse hinter sich hat. Am Ende hat eine Verletzung am Handgelenk regelmäßiges Training nicht mehr möglich gemacht. „Die Gesundheit geht am Ende vor, es gibt ja auch ein Leben danach“, sagte Valeri Belenki – und bekräftigte: „Es ist die richtige Entscheidung.“ Belenki ist heute Bundestrainer der deutschen Turner. Zuvor war der Ex-Weltmeister als Coach am Standort Stuttgart tätig – wo er den jungen Marcel Nguyen von 2009 an nach und nach zum Weltklasseathleten ausbildete. „Solch ein Talent“, schwärmte er nun, „wird vielleicht alle 200 oder 300 Jahre geboren.“

Sein Körperbau befähigte den 1,65 Meter großen Nguyen schon früh zu besonderen Leistungen. Der ehemalige Bundestrainer Andreas Hirsch zählte ihn einst zur Kategorie „Leichtbauweise“. Laut Belenki hatte sein Schützling zudem die Gabe, Neues extrem schnell zu erlernen und auch nach Trainingspausen die alten Übungen sofort wieder abrufen zu können. So arbeitete das Duo jahrelang daran, Nguyens Stärken auszubauen und die Schwächen zu minimieren. Am Barren wurde er absolute Weltspitze, kreierte ein eigenes Element und gewann nicht nur zwei EM-Titel an diesem Gerät, sondern auch die olympische Silbermedaille.

2012 in London gelang dieser Coup, der deshalb nicht die wertvollste Leistung des Turners ist, weil Nguyen sie ebenfalls in London noch übertrumpfte. Mit Silber im Mehrkampf. „Es war ein Traum“, sagte der heute 35-Jährige, als er zurückdachte an den Moment, als der Medaillengewinn seinerzeit feststand. Und um die Bedeutung des damals Erreichten noch zu unterstreichen, ergänzte Belenki: „Silber im Mehrkampf – darauf wird Deutschland lange warten müssen.“

Diskussionen um ein Tattoo

Marcel Nguyen und Valeri Belenki, das wird auch an Tag eins des neuen Lebensabschnitts klar, verstehen sich nahezu blind. „Wie ein Vater“ sei der Coach für ihn teils gewesen, erinnerte sich Nguyen. Und doch hatten die beiden auch ihre schwierigen Momente miteinander. Etwa, als der Turner den Trainer 2012 von seinem Plan erzählte, sich ein Tattoo stechen lassen zu wollen. Was heute gang und gäbe ist, war im Turnen damals undenkbar – und Belenki trieb die Sorge um, so ein Kunstwerk auf der Haut könnte die Kampfrichter dazu veranlassen, Zehntelpunkte abzuziehen. „Drei Monate lang habe ich versucht, es ihm auszureden“, erinnerte sich Belenki. Irgendwann sei Nguyen dann zu ihm gekommen mit der Nachricht: „Heute ist Termin.“ Und anstatt eines kleinen unauffälligen Tattoos zierte fortan ein ganzer Schriftzug die Brust des Turners. „Ich war schockiert“, sagte Belenki – und Nguyen stimmte zu, das Tattoo im Wettkampf erst mal zu überschminken.

Die Kunst auf der Haut ist im Laufe der Jahre zahlreicher geworden bei Marcel Nguyen – und vielleicht hat dies auch ein bisschen die Richtung vorgegeben für sein neues Leben. Der dreimalige Europameister und 18-malige deutsche Meister, der seit 2012 vor allem in Hongkong extrem populär ist, repräsentiert weiter bisherige und neue Sponsoren. Er hat sich aber auch selbstständig gemacht – mit einem Studio für dauerhafte Haarentfernung in München.

„Es läuft ganz gut an“, sagte er – und verabschiedete sich in sein neues Leben. Das beginnt, wie das alte endete: mit einem Spaziergang mit Akira.