Topinformant und Angeklagter: Paul-Ludwig U. tischte der Polizei Lügen, Märchen und Halbwahrheiten zur Gruppe S. auf. Foto: dpa

Verteidiger wollen den Prozess um die mutmaßliche rechte Terrorgruppe S. platzen lassen, weil sie nicht das gesamte Akten- und Daten Material vorliegen haben, das ermittelt wurde. Die Richter widersprechen ihnen massiv.

Im Prozess um die mutmaßliche Rechtsterrorgruppe S. haben die Verteidiger beantragt, dass Verfahren einzustellen oder zumindest pausieren zu lassen. Hintergrund sind 15 Terabyte Datenmaterial, von denen das Landeskriminalamt – überraschend für die Juristen – kürzlich drei Richtern des 5. Strafsenats berichtete. Diese offenbar auf Datenträgern der Angeklagten gefundenen Dateien hatte das LKA 2020 zunächst aufwendig aufbereitet und ausgewertet. War dann aber zu dem Schluss gekommen, dass die Daten für das Gerichtsverfahren nicht relevant seien. Zuvor hatten Anwälte gefordert, Einblick in alle noch in der Behörde vorhandenen Akten und Daten des Falles zu nehmen. Ihnen liegen bislang nur Akten und Dateien in einer Menge von 100 Gigabyte, weniger als einem Prozent der insgesamt vorliegenden Datenmenge, vor.

Zudem war bei der Aussage eines Kriminalhauptkommissars zufällig bekannt geworden, dass das LKA eine bislang unbekannte Anzahl, mindestens jedoch sechs, Ermittlungsverfahren gegen die Angeklagten zur Gefahrenabwehr nach dem Polizeirecht Baden-Württembergs geführt hatten. Diese Ermittlungen wurden ebenso wenig zu den Gerichtsakten gegeben wie die dazu zwischen dem LKA und dem Generalbundesanwalt ausgetauschten Emails.

Ermittlungen so nicht für möglich gehalten

Die Rechtsanwälte Anika Klein und Werner Siebers argumentieren, dass „das Begehren auf vollständige Akteneinsicht zu jeder Zeit geltend gemacht werden kann, ohne dass das Gericht zu hinterfragen hat, warum solches Begehren wann geltend gemacht wird. Es ist in diesem Verfahren gerade erst in den letzten Wochen immer häufiger deutlich geworden, dass Akteninhalte von den Ermittlungsbehörden - aus welchen Gründen auch immer - zurückgehalten wurden“. Für die Verteidigung sei es unvorstellbar gewesen, dass es sich bei den zurückgehaltenen Informationen nicht etwa um einen zu tolerierenden Prozentsatz handele, sondern vielmehr um wohl mehr als 99 Prozent.

Verteidiger Alexander Kist sekundiert: „Als vor fast zweieinhalb Jahren das Verfahren begann, habe ich nicht für möglich gehalten, was hier alles zu Tage tritt: Was alles nicht in den Akten ist, Videos, die immer noch fehlen.“ Es habe eine fingierte Kontrolle des Topinformanten der Polizei, des ebenfalls angeklagten Paul-Ludwig U., in Heidelberg gegeben, zu der die im Gericht befragten Polizisten die Unwahrheit gesagt, ja sogar gelogen hätten.

Die Richterinnen und Richter widersprechen den Verteidigern und lehnen es ab, eine Pause einzulegen: Sie sähen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Anwälte in ihrem Anspruch auf Akteneinsicht beschränkt wurden. „Dass mehr als 99 Prozent des angefallenen Datenbestands aktiv zurückgehalten und verheimlicht wurden, entbehrt jeder Grundlage“, sagt der Vorsitzende Richter Herbert Anderer. Bei dem Material handele es sich nach vorläufiger Einschätzung der LKA-Experten um Daten sichergestellter Asservate.

„Dass diese Datensicherungen erfolgten, ist kein neu zu Tage getretener Umstand, sondern ergab sich bereits aus den mit der Anklageerhebung vorgelegten Sachakten.“ Die Verteidiger hätten somit seitdem „über die vollständige und umfassende Information verfügt, dass diese Daten beim LKA vorhanden sind. „Sie hatten frühzeitig die Möglichkeit, Einblick in diese Daten zu beantragen. Diese Verzögerung hätten einzig die Verteidiger zu verantworten.

Erneutes Aufbereiten der Daten würde LKA beeinträchtigen

Weil das LKA seit 2020 neue und überarbeitete Softwareprogramme nutzt, würde es Monate dauern, die Datenmenge erneut aufzubereiten und den Verteidigern zu übergeben. Zudem würde das die Ermittlungsmöglichkeiten der Behörde in anderen Fällen erheblich einschränken. Widersprochen haben die Richter auch, dass LKA-Akten aus ungezählten Verfahren zur Gefahrenabwehr gegen die Angeklagten nicht vorliegen Diese Unterlagen, so Anderer, seien „in einem gesonderten, auf polizeirechtlicher Grundlage geführten Verfahren erhoben worden“ und deshalb nicht Teil des Strafverfahrens.

Das jedoch bezweifeln die Verteidiger vehement. Denn, so ihre Argumentation, wenn die in ihren Augen in diesen Verfahren ohnehin schlampig ermittelnde Polizei „nichts die Angeklagten belastendes ermittelten, ist das in der Gesamtwürdigung aller Beweise und Indizien für unsere Mandanten als entlastend zu bewerten“, sagt Jurist Siebers. Seine Kollegen sagen unisono, es sei Aufgabe der Richter, Staatsanwälte und Verteidiger zu beurteilen und zu entscheiden, was für ein Strafverfahren relevant sei und was nicht. Das sei keinesfalls Aufgabe der Polizei.