Als Einziger mit Pistole zum Gruppentreffen an die Hummelgautsche bei Schwäbisch Gmünd: Polizisten fotografierten Spitzel Paul-Ludwig U. mit Waffe. Foto: StN/StN

Seit 100 Verhandlungstagen versuchen Richter, Verteidiger und Staatsanwälte zu klären, was rund um die mutmaßliche Rechtsterrorgruppe S. geschah. Die Ermittlungen im Fall eines Beschuldigten werfen Fragen auf. Die anfänglich gute Arbeitsatmosphäre zwischen Richtern und Anwälten ist zunehmend vergiftet.

1005 Tage Leben stehen da. Eingepackt in einem blauen Köfferchen, wie es Geschäftsreisende rollen, wenn sie über Nacht in eine andere Stadt jetten. Und in einer braunen Papiertüte, in die im Supermarkt der Einkauf für drei, vier Tage gepackt wird. Das Gepäck ist zu groß für die Fächer, in denen Justizwachtmeister die Habseligkeiten von Besuchern des Stuttgarter Oberlandesgerichts (OLG) in Stammheim schließen.

Köfferchen und Tüte, die Habe eines Mannes, der am 100. Verhandlungstag des Prozesses gegen die mutmaßliche Rechtsterrorgruppe aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Einer jener zwölf, deren Wohnungen am frühen 14. Februar 2020 von Elitepolizisten gestürmt wurden. Sie sollen, so will es der Generalbundesanwalt wissen, Terroranschläge geplant, Moscheen und die Grünen-Spitzenpolitiker Anton Hofreiter und Robert Habeck ins Visier genommen haben. Sie hätten einen Bürgerkrieg auslösen wollen. Einer der zwölf ist tot – er erhängte sich im Sommer 2020 in seiner Zelle im Dortmunder Gefängnis.

Besitz von Kinderpornos bleibt folgenlos

Ein 13. Mann ist angeklagt. Seine Wohnung im nordbadischen Mosbach stürmte kein Polizist. Stattdessen wurde sie drei Tage vor der bundesweiten Razzia von Ermittlern des baden-württembergischen Landeskriminalamtes (LKA) durchsucht. Diskret. Sie fanden eine beschossene Zielscheibe, die Rechnung für eine Gasdruckpistole und kinderpornografisches Material auf einem Rechner. Aber Paul-Ludwig U. versorgte die Sicherheitsbehörden seit April 2019 mit teilweise zusammengereimten Informationen über frei erfundene, rechte Terrorgruppen. U. wurde – im Gegensatz zu seinen Mitangeklagten – nicht in Untersuchungshaft genommen. Die Kinderpornos blieben folgenlos.

Die Staatsanwälte werfen ihm vor, Mitglied der Gruppe S. gewesen zu sein. U. selbst antwortete in seiner letzten Vernehmung im April 2020 auf die Frage des künftigen Stuttgarter Kripo-Chefs Alexander Stalder: „Ich war der Regisseur.“

Drei bis dreieinhalb Millionen Euro hat die Suche nach der Wahrheit vor dem 5. Strafsenat des OLG seit April 2021 gekostet, sind sich Verteidiger sicher. Es ist eine schwierige, komplexe Suche, auf der fünf Richterinnen und Richter, 24 Verteidiger, mal zwei, mal drei Staatsanwältinnen sind. Hinzu kommen ein Psychiater als Sachverständiger, zwei Richter, die einspringen, sollte einer der amtierenden das Verfahren gesundheitlich nicht mehr fortsetzen können.

Zwei Geiselnahmen, einmal einen Polizisten

Im Fokus des Verfahrens steht zweierlei. Zum einen die Rolle U.s: War er nun eine Vertrauensperson der Ermittler oder nicht? Zum anderen die Ermittlungsarbeit des LKA Baden-Württemberg, bei der es in diesem Fall viele Ungereimtheiten gibt.

Der Leiter der Ermittlungsgruppe Valenz im LKA nennt U. scherzhaft einen „Kronbeschuldigten“. Ein Wortspiel bestehend aus Kronzeuge, dem Zeugen der Krone, dem von jeher besonderer Schutz angedeiht, und einer Endung, die bereits impliziert, dass U. eine Straftat vorgeworfen wird: 21 Jahre lang saß U. wegen verschiedener Straftaten bereits ein, ein Großteil davon in psychiatrischer Unterbringung. Zweimal nahm er Geiseln, einmal einen Polizisten.

Der 50-Jährige belastete mit zum Teil erfundenen Vorwürfen Menschen. In Bayern legten Staatsanwälte seine nahezu wortgleichen Rechtsterror-Geschichten zu den Akten. In Baden-Württemberg verfingen dieselben Erzählungen.

Schlampige Ermittlungen

Genau das charakterisiert diesen Prozess: Die schlampige Ermittlungsarbeit des LKA Baden-Württemberg in diesem Fall. Die Nähe des Ermittlungsleiters und seiner Stellvertreterin zu U., dem sie zuschauten, wenn er Straftaten beging. „Wir sind Zeuge, wie ein leicht manipulierbarer Schwerverbrecher vom LKA am langen Zügel geführt, durch Zurückhaltung von Informationen getäuscht und durch geschicktes Fragen zum Spitzeln und Zündeln veranlasst wird. So wird das gewünschte Ziel unter dem Deckmantel angeblich seriöser Ermittlungsarbeit erreicht, um nicht zu sagen, erschwindelt“, kritisiert Verteidiger Werner Siebers.

Bei einem observierten Treffen im Herbst 2019 erschien U. als Einziger mit einer Pistole, wie Ermittler dokumentierten. Angeblich eine Schreckschusswaffe. Oder eine scharfe? Überprüft hat das niemand. Damit der die Waffe nicht weitergab, observierten Polizisten ihn, fingierten seine Kontrolle im Heidelberger Bahnhof im Oktober 2019. Die Waffe wurde sichergestellt. Dass der Scoop durch das LKA arrangiert war, kam dann zufällig heraus: Weil U. unerlaubt die Waffe mit sich führte, wurde er angeklagt und zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt – trotz seiner Vorstrafen. Er habe, urteilte die zuständige Heidelberger Richterin, verdeckt für das LKA ermittelt.

Er besorgte sich eine zweite Waffe. Dies und eine nach Stuttgart ins LKA weitergeleitete Anzeige des LKA Rheinland-Pfalz gegen U., der einen SS-Totenkopf bei Facebook gepostet hatte, wurde offenbar bislang nicht weiterbearbeitet. Der Freiburger Rechtsanwalt Dubravko Mandic beantragte, U.s Vernehmungen und die Aussagen einer Hauptkommissarin nicht zu verwerten: „Es ist dringend Aufklärung darüber geboten, inwieweit das tatprovozierende Verhalten des Angeklagten U. dem Staat zuzurechnen ist.“ U. habe sich nicht darauf beschränkt, andere zu rechtswidrigen Taten zu provozieren, sondern vielmehr sein eigenes Verhalten als das seiner Mitangeklagten hingestellt.

Bundesanwältin mit dem Ton eines Hauptfeldwebels

Immer wieder ist bei U. von Absprachen mit und von Gefälligkeiten des Generalbundesanwalts und der Ermittler die Rede. Sie, betonte jetzt Bundesanwältin Cornelia Zacharias als Zeugin, habe im Oktober 2019 deutlich gemacht, dass U. nicht zum Informanten der Polizei oder gar in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen wird. Auch werde sie nicht zur Fürsprecherin in anderen Verfahren.

Über diese Entscheidungen ließ die Vize-Ermittlungsführerin U. jedoch noch im Januar 2020 im Unklaren, als dieser drängelte, Zacharias solle wegen der Waffe ein gutes Wort für ihn einlegen. Auch die Vernehmung U.s am 14. Oktober 2019, als es um seinen Status als Vertrauensperson und späteren Zeugenschutz ging, wirft Fragen auf. Die Vernehmung führten nur die beiden leitenden Ermittler. „Eine Vernehmung, in der U. die Entscheidung Zacharias‘ zu seinem Status übermittelt werden sollte. Keine weitere Zeugen. Das Protokoll des Gespräches ist ein eigenwilliger Wechsel zwischen wörtlicher und sinngemäßer Rede. Kein Mitschnitt. Diese Vernehmung verlief völlig anders als alle anderen Vernehmungen U.s. Warum?“, fragt Verteidiger Harald Stehr.

„Eine Sternstunde der deutschen Justiz“, war die Zeugenaussage der Bundesanwältin für Siebers. „Frau Oberstaatsanwältin hat geradezu im Ton eines Hauptfeldwebels herausgekehrt, dass sie das Verfahren allein und souverän führte, sich in ihrer Professionalität geradezu gesuhlt. Gleichzeitig hat sie kleinlaut eingeräumt, sie habe im angeblichen Stress leider mal vergessen, dass allen Beschuldigten ein Pflichtverteidiger zuzuordnen war, als sie deren Vorführung vor den Ermittlungsrichter anordnete. Wer sie erlebt hat, glaubt ihr vieles. Aber ganz sicher nicht, dass ihr dieser Verstoß gegen grundlegende Verteidigungsrechte durchgerutscht ist.“

Überraschend will der „Kronbeschuldigte“ aussagen

Zufällig wurde jetzt bekannt, dass die das Verfahren betreuende Staatsanwältin Judith Bellay Informationen aus dem laufenden Verfahren an das LKA gibt. Dort wird das Wissen auch an Beamte weitergegeben, die als Zeugen in dem Verfahren aussagen müssen. Fünf der elf inhaftierten Angeklagten befinden sich seit Prozessbeginn wieder auf freiem Fuß. Vieles spricht dafür, dass die Richter sie entließen, als die möglichen Haftstrafen mit der Untersuchungshaft abgegolten waren.

Das Verhältnis zwischen Richtern und Verteidigern hat sich vergiftet: Kürzlich fragte ein Anwalt den Senat, ob sein Mandant nach einer weiteren Aussage dieses Jahr aus der Untersuchungshaft entlassen werde. Dies sei nur dann wahrscheinlich, teilte ihm der Vorsitzende Herbert Anderer mit, wenn sich der Angeklagte deutlich substanziell zur Sache äußere. Ende Oktober übermittelten die Richter dem Anwalt die Punkte, in denen sie den Angeklagten bislang nicht als geständig bewerten.

Verteidiger Jörg Becker lehnt für seinen Mandaten die fünf Richterinnen und Richter deshalb als befangen ab: „Besonders brisant ist, dass der Senat nicht nur allgemein eine Erweiterung der geständigen Einlassung des Angeklagten vorschlägt, sondern hierzu in höchst ungewöhnlicher Art und Weise ‚Segelanweisungen‘ zum genauen Inhalt des Geständnisses gibt, indem er dem Verteidiger mitteilt, dass ‚die Einlassungen des Angeklagten zu den folgenden Punkten noch nicht als Geständnis gewertet werden‘ könnten“. Über den Antrag wird noch entschieden.

Überraschend kündigte U. an, an diesem Donnerstag in der Hauptverhandlung zu seiner Zusammenarbeit mit dem LKA aussagen zu wollen. Bislang hatte er geschwiegen. Er ist der einzige Angeklagte in diesem Verfahren, dessen Leben jetzt 1007 Tage lang in keinem Köfferchen, in keiner Papiertüte war.