Freundlicher Applaus und viele Selfies: SPD-Chef Lars Klingbeil hat im Kursaal in Bad Cannstatt vor mehr als 500 Migranten fast ein Heimspiel. Nur bei Israel gibt es Differenzen.
Als sich die junge Frau mit Kopftuch vorstellt, geht ein Raunen durch den Saal. Sie sei Vorsitzende der örtlichen Jugendorganisation der Union internationaler Demokraten (UID). Sie gilt als Lobbyorganisation von Präsident Recep Tayyip Erdogans AKP. Dann spricht sie vom israelischen Vernichtungsfeldzug gegen die Palästinenser in Gaza. Sie verstehe nicht, warum die Bundesregierung Netanjahu und seine Rechtsregierung hier uneingeschränkt unterstütze. Den Angriff der Hamas, der am 7. Oktober Ausgangspunkt des Krieges war, erwähnt sie nicht. Nur so viel: Sie sei natürlich grundsätzlich gegen die Anwendung von Gewalt – „egal von welcher Seite“.
Die Zustimmung ist nicht ungeteilt, der Applaus ist aber merklich der lauteste an diesem Abend, der unter dem Motto „Mevzular Açik Mikrofon“ steht. Das heißt offenes Mikrofon, ein unter Deutsch-Türken beliebtes Youtube-Format, das sich der Ditzinger SPD-Bundestagsabgeordnete Macit Karaahmetoğlu zum Vorbild genommen hat. Niemand Geringeres als den SPD-Chef Lars Klingbeil hat er dazu in den Cannstatter Kursaal eingeladen. Was junge Deutsch-Türken bewegt soll der SPD-Chef an diesem Abend erfahren.
Karaahmetoğlu macht die Hütte voll
Aus den Boxen dringt ein harter Beat. DJ Cansin hat „Senden Daha Güzel“ der Türk-Popband Duman aufgelegt. Das heiße übersetzt so viel wie „Du bist der Allerbeste“, sagt Karaahmetoğlu, und bittet Klingbeil auf die Bühne. „Wenn du nach Stuttgart kommst, mache ich die Hütte voll“, hatte er versprochen. 500 Menschen sind tatsächlich gekommen. Die meisten sind Deutsch-Türken.
„Das ist wirklich ziemlich beeindruckend“, sagt Klingbeil. Doch Karaahmetoğlu ist eben gut vernetzt. Wenn er ruft, dann strömt die Community. „Und jeder bringt noch zwei mit.“ Zum Beispiel Hiko Keser, 28, aus Heilbronn: „Ein guter Freund hat mir den Einladungslink geschickt.“ Er habe Karaahmetoğlu und Klingbeil gegoogelt und dann gedacht: „Das höre ich mir mal an.“
„Müssen wir uns fürchten?“
Im Kursaal geht es um Kinderarmut, Pflegenotstand und die finanziellen Nöte der Kommunen – Fragen, die auch von jedem anderen Polit-Publikum gestellt werden, wie Klingbeil hinterher feststellt. Aber auch die jüngst bekannt gewordenen Remigrationspläne der AfD und das nach den NSU-Morden geschwundene Vertrauen von Migranten in die deutsche Polizei wird bei den Wortmeldungen thematisiert. „Müssen wir uns fürchten?“, fragt einer. Ein junger türkischer Unternehmer kritisiert, dass die Bundesregierung die Türkei bei ihrem Kampf gegen den PKK-Terror so alleine lasse.
Viele in der deutsch-türkischen Community seien der Meinung, dass sich Deutschland im Ukraine-Krieg zu sehr von den USA unter Druck setzen ließen, meint Melissa Yilmaz, eine junge Steuerfachangestellte. „Die EU und Deutschland wollen Frieden, aber die USA treibt uns dazu, die Ukraine zu unterstützen“, sagt sie. Da muss Klingbeil widersprechen. Amerika sei lange nicht so betroffen von dem Krieg. „Ich bin überzeugt, dass wir uns vor Putin schützen müssen.“
Es folgt ein Selfie-Marathon
Auch beim Thema Israel ist Klingbeil klar. „Ich verteidige nicht die israelische Regierung, ich verteidige den Staat Israel.“ Allerdings habe auch er festgestellt, dass sich Israel von der gebotenen Verhältnismäßigkeit seiner Reaktion zuletzt wegbewegt habe. „Ich stehe auf der israelischen Seite, aber ich will auch, dass das Sterben auf der palästinensischen Seite ein Ende nimmt.“
Nach zwei Stunden ist Schluss und es beginnt ein Selfie-Marathon. Fast jeder möchte mit dem Bundespolitiker fotografiert werden und klettert auf die Bühne. Selbst die Vertreter zweier türkischer Newsportale lassen sich mit Klingbeil ablichten. Davon abgesehen, sei es nicht viel anders als sonst gewesen, sagt Klingbeil. „Nur die Musik war hier besser.“ Dass auch das Catering – schwäbische Brezeln und türkische Pide – lecker gewesen wäre, erfährt Klingbeil nicht. Er muss schnell weiter zum nächsten Termin.