Religiosität und Kirchenbindung schwinden schneller als von manchen erwartet und von anderen befürchtet. Für die allermeisten, selbst Christen, spielen Glaube und Religion keine Rolle mehr. Geht es für die Kirchen in Deutschland bereits um Sein oder Nichtsein?
Kirche und Glaube sind im freien Fall begriffen. Die Bindung katholischer und protestantischer Christen an ihre Kirche erodiert, das Gemeindeleben erlahmt, das christliche Profil der Gesellschaft verblasst.
Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Standfesten bleiben und nur die „Karteileichen“ gehen. Es gibt kein „Gesundschrumpfen“, die Spreu trennt sich nicht vom Weizen. Nein! Der Glaube verdunstet – und mit ihr die Kirche!
Existenzielle Krise der christlichen Kirchen
Ist diese Zustandsbeschreibung christlicher Religiosität in Deutschland überzogen? Zu apodiktisch und hart, zu hoffnungslos und pessimistisch?
Die am Dienstag (14. November) von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auf ihrer Synode in Ulm vorgestellte „Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“ enthüllt genau diese Einsicht in das längst Unleugbare: Das Ausmaß der Krise der christlichen Kirchen in Deutschland ist noch größer als bislang angenommen.
Laut Studie ist inzwischen eine Mehrheit von 56 Prozent der Bundesbürger säkular und will nichts mehr mit Glaube, Kirche und Religion zu tun haben. Die Kirchen stehen angesichts der enormen Zahl an Kirchenaustritten vor einem „Kipppunkt“. Oder um mit Shakespeare zu sprechen: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.“
Umfassendste Untersuchung zu Religion und Kirche
Die EKD erstellt die repräsentative Untersuchung ihres Sozialwissenschaftlichen Instituts in großen zeitlichen Abständen seit 1972. Erstmals erhebt die Studie den Anspruch, die Einstellungen der Gesamtbevölkerung abzubilden. So wurden unter den über 5000 Teilnehmern der Umfrage erstmals auch Katholiken und Anhänger anderer Religionen neben Protestanten und Konfessionslosen befragt. Laut EKD ist es die umfassendste Untersuchung zu Religion und Kirche, die es in Deutschland je gab.
Als ein zentrales Ergebnis stellen die Studienmacher nun fest, dass unter Christen nicht nur die Kirchenbindung abnimmt, sondern auch die Religiosität allgemein. Stark religiös mit häufigen Gottesdienstbesuchen seien nur noch 13 Prozent der Kirchenmitglieder.
Dramatischer Vertrauensverlust
Für die katholische Kirche erklärt der Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) im Beirat der Studie, Tobias Kläden: Es zeige sich ein dramatischer Vertrauensverlust besonders in die katholische Kirche. Dabei verweist er darauf, dass sich fast alle katholischen Befragten für klare Reformen der katholischen Kirche aussprechen. 96 Prozent der befragten Katholiken sagten, ihre Kirche müsse sich „grundlegend“ ändern, damit sie eine Zukunft habe.
Der Studie zufolge schließen zwei Drittel der Protestanten und drei Viertel der Katholiken einen Kirchenaustritt als Option nicht aus. „Falls all diese Mitglieder in den nächsten Jahren tatsächlich austreten sollten, steht die Kirche vor einem organisationalen Kipppunkt“, heißt es in der Studie. Dann wären die Kirchen zumindest als Organisationen, wie sie heute bekannt sind, in ihrem Fortbestand gefährdet.
Glaube „Light“ oder Abkehr vom Glauben?
Bisher deuteten Theologen und Religionssoziologen den sich über Jahrzehnte anbahnenden Prozess der Säkularisierung – also der Verweltlichung, der Abkehr vom Glauben an ein Jenseits und der Lockerung religiöser Bindungen – eher so, dass der allgemeine Trend nicht zum Atheismus, sondern zur religiösen Individualisierung und Popularisierung von Glaube und Spiritualität geht. Zu einem „Glauben Light“, einem laxen, gesellschaftlich unverbindlichen und nebulösen Glaubensverständnis.
Der britische Bevölkerungswissenschaftler David Voas hat diese unscharfe, konturlose religiöse Haltung einmal „fuzzy fidelity“ genannt.
Glaube nein – Kirche erst recht nicht?
Doch selbst diese minimalistische Version einer christlichen Religion scheint hierzulande mittlerweile gefährdet. Die Ergebnisse der EKD-Studie lassen keinen anderen Schluss zu: Nicht nur die Kirchenbindung geht deutlich zurück, sondern auch die Religiosität. Der lange Zeit weit verbreitete Slogan „Glaube ja - Kirche nein!“ scheint in Richtung „Glaube nein – Kirche erst recht nicht!“ fortzuschreiten.
Für fast acht von zehn Befragten hat demnach Religion überhaupt keine oder nur wenig Bedeutung. Selbst unter den Kirchenmitgliedern verstehen sich nur noch vier (katholisch) bzw. sechs Prozent (evangelisch) als gläubig und kirchennah.
Der christliche Glaube will den Menschen Orientierung und Halt vermitteln, indem er ihnen Erklärungsmodelle und Handlungsoptionen an die Hand gibt, wie sie die Welt und ihre Existenz begreifen und das Bestmögliche aus ihrem Leben machen können. Er verkündet einen Gott, der die Welt erschaffen hat, sich seinen Geschöpfen offenbart und ihnen ein ewiges Ziel gibt: die Rückkehr in die unvergängliche Welt des Göttlichen.
„Auch Götter sterben, wenn niemand mehr an sie glaubt“
Doch was ist, wenn niemand mehr diese Botschaft hören will? Wenn Glaube und Religion den meisten schlicht egal sind? Ist dann nicht nur Kirche, sondern auch Religion an sich erledigt? „Auch Götter sterben, wenn niemand mehr an sie glaubt“ sagte einmal der französische Philosoph und Dramatiker Jean-Paul Sartre (1905-1980).
Der in Stuttgart geborene Sozialphilosoph Marx Horkheimer (1895-1973) prognostizierte bereits vor 53 Jahren in einem legendären Interview mit dem „Spiegel“: „Man wird das Theologische abschaffen. Damit verschwindet das, was wir ‚Sinn‘ nennen, aus der Welt. Zwar wird Geschäftigkeit herrschen, aber eigentlich sinnlose. Eines Tages wird man auch Philosophie als eine Kinderangelegenheit der Menschheit betrachten.“