Großbritannien schafft bewusst Distanz zur EU – ein folgenschwerer Affront, kommentiert unser Großbritannienkorrespondent Peter Nonnenmacher.
Für Boris Johnson ist die Missachtung von Verträgen, die er mit der EU schloss, „keine große Sache“. Letztlich, erklärte der britische Premierminister diese Woche, nehme er ja „nur eine Reihe vergleichsweise trivialer Anpassungen“ am Brexit-Abkommen von 2020 vor. Andererseits sei ihm aber natürlich, zum Schutz seines Landes, auch gar keine andere Wahl geblieben, als zu handeln. So hat Johnson den Gesetzentwurf gerechtfertigt, den seine Regierung jetzt im britischen Parlament einbrachte und der Vereinbarungen des Nordirland-Protokolls außer Kraft setzen soll.
Dass es sich in Wirklichkeit um eine ganz schön „große Sache“ handelt, haben die Reaktionen auf die britische Bereitschaft zum Vertragsbruch gezeigt. Jetzt riskiert Johnson bewusst einen Handelskrieg. Wenig überzeugen kann auch das Argument des Premiers, dass die angespannte Lage in Nordirland und die Situation der sich isoliert fühlenden nordirischen Unionisten eine solche Aktion erforderlich machten. Immerhin hat Boris Johnson selbst mit seinem „harten Brexit“ Nordirland erst in die Lage gebracht, in der es sich heute findet.
Warum Boris Johnson trotz allem auf Kollisionskurs geht
Nunmehr will er von seinen damaligen Entscheidungen, von seiner Irreführung der Unionisten und von allerlei anderen Täuschungsmanövern nichts mehr wissen. Mit einem Mal wird die EU angeprangert, für aktuelle Spannungen in Nordirland verantwortlich zu sein. Dabei haben die meisten Nordiren gar keine großen Probleme mit dem Protokoll, das ihnen angeblich so zusetzt. Offenkundige Unebenheiten bei der Umsetzung des Protokolls glaubt man vor Ort ausbügeln zu können – mithilfe der EU.
Wichtig ist dagegen für Nordirland, dass der Provinz mit der weiteren Teilhabe am EU-Binnenmarkt ein wirtschaftlicher Vorteil erwachsen ist, den keiner der anderen Teile des Vereinigten Königreichs genießt – weshalb es derzeit eine besonders gute Wachstumsrate verzeichnet. Aber das mögen sich die Brexit-Hardliner, die auf Abgrenzung zur EU bestehen, natürlich nicht sagen lassen. Das passt nicht in ihren Plan.
Tatsächlich haben 52 von 90 Abgeordneten des Nordirland-Parlaments Johnson diese Woche gedrängt, das neue Gesetz um Himmels willen nicht einzubringen. Und Großbritanniens Oppositionsparteien haben ebenso nachdrücklich gewarnt vor einer Regierungsaktion, die ihrer Ansicht nach die Kluft in Nordirland nur verstärkt, Dublin vor den Kopf stößt, alle nötige Zusammenarbeit mit der EU erschwert und das internationale Ansehen ihres Landes übel ramponiert.
Dass Boris Johnson dennoch auf Kollisionskurs gegangen ist, hat freilich wenig zu tun mit nordirischem Friedenserhalt oder der Verteidigung nationaler Interessen. Es hat mehr zu tun damit, dass Johnsons Position in der eigenen Partei und in der englischen Wählerschaft bedrohlich am Wackeln ist. Mit seiner Provokation der EU sucht der Tory-Chef jetzt noch einmal alte Brexit-Schlachten neu zu inszenieren, die ihm schon einmal so nützlich waren – egal, was das sein Land und den Rest der Welt kostet. Zu einem Zeitpunkt, da mehr denn je europäische Solidarität nötig wäre, schafft Großbritannien bewusst Distanz zu seinen Nachbarn, zeigt kein Interesse an Verständigung.
Die EU bringt das in eine schwierige Situation. Für Boris Johnson mag das Ganze am Ende bloß eine ruppige Verhandlungstaktik sein, mit der der Brite sich Brüssel gefügig zu machen hofft. Vielleicht wird das Gesetz, wegen Widerstands in Westminster, auch überhaupt nie verabschiedet oder nie angewendet. Aber allein schon die Absichtserklärung ist ein folgenschwerer und gänzlich unnötiger Affront.