Ruth Ur, Geschäftsführerin des Freundeskreises Yad Vashem Deutschland, vor einer Tafel mit den Empfehlungen, die ein jüdischer Vater 1939 seiner Tochter mitgegeben hat. Sie sahen sich nie wieder. Foto: Sellner

10 000 jüdische Kinder überlebten den Nazi-Terror, weil sie 1938/39 Aufnahme in England fanden. Diesen wenig bekannten Kindertransporten vor 85 Jahren ist eine Ausstellung in Berlin und ein Vortrag im Stuttgarter Hospitalhof gewidmet.

Eine neue Ausstellung im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestags lenkt den Blick auf ein wenig bekanntes Kapitel der Geschichte: die sogenannten Kindertransporte, mit denen auf Initiative von Wohltätigkeitsorganisationen 1938/39 mehr als 10 000 jüdische Kinder aus dem Deutschen Reich zumeist nach England in Sicherheit gebracht wurde.

Ruth Ur, die Geschäftsführerin des Freundeskreises Yad Vashem Deutschland, die die Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Berthold-Leibinger-Stiftung, der Holocaust Library in Wien und der Association of Jewish Refugees kuratierte, machte bei der Vorbereitung nach eigenen Worten die Erfahrung, „dass viele Deutsche das Wort ,Kindertransporte‘ mit Auschwitz in Verbindung bringen“. Dabei geht es hier nicht um das Thema Vernichtung, sondern um ein kleines Zeitfenster der Rettung. Unter dem Eindruck der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 und auf Bitten von Juden in England hatte die britische Regierung die Einreise von jüdischen Kindern aus dem Deutschen Reich unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. „Kindertransport“ ist auf der Insel bis heute ein Begriff.

Die Kindertransporte sind auch Thema im Stuttgarter Hospitalhof

Der erste Zug mit 196 jüdischen Kindern startete am 30. November 1938 von Berlin aus. In den neun Monaten bis zum Kriegsausbruch brachten Züge Kinder aus vielen deutschen Städten – auch aus Stuttgart – nach Holland, von wo aus die Kinder nach England übersetzten. Viele von ihnen sahen ihre Eltern nie wieder, weil diese dem Nazi-Terror zum Opfer fielen. In England fanden die Kinder Aufnahme und Sicherheit, jedoch nicht automatisch Glück. Den psychischen Belastungen, denen sie ausgesetzt waren, wurde erst spät Aufmerksamkeit geschenkt und ist Gegenstand von Forschungen der in Wales lehrenden Wissenschaftlerin Andrea Hammel, die am 8. Februar auch im Hospitalhof in Stuttgart (Beginn 19 Uhr) vorgestellt werden.

Die sehenswerte Ausstellung in Berlin unter dem Titel „I said ,Auf Wiedersehen’ – 85 Jahre Kindertransport nach Großbritannien“ stellt exemplarisch fünf Kinder-Schicksale vor. Dabei werden bis 23. Februar auch Original-Briefe der Eltern und der Kinder aus der Gedenkstätte Yad Vashem und der Wiener Holocaust Library gezeigt. Sie stellen berührende Zeugnisse der damaligen Rettungsaktion dar, die mit Verlust und Trennung verbunden war. Zwei der fünf „Kinder“ leben heute noch in London und Jerusalem.

Zeitzeugen: Hella Pick und Alfred Dubs kamen 1939 im Alter von zehn und sechs Jahren mit einem Kindertransport nach England, wo sie bis heute leben. Foto: Sellner

Zwei andere „Kinder“, die 1929 in Wien geborene britische Journalistin Hella Pick und der 1933 geborene Lord Alfred Dubs, waren am Dienstag bei der Präsentation und Eröffnung der Ausstellung in Berlin anwesend und berichteten von ihren Erinnerungen. Sie waren damals zehn und sechs Jahre alt. Beide hatten das Glück, einen Elternteil in England wiederzutreffen. Die ebenso plakativ wie punktgenau gestaltete Ausstellung war für sie nach ihren Worten eine zutiefst emotionale Reise in die Vergangenheit. „Sie bringt viele Erinnerungen zurück – schmerzvolle, aber auch gute“, sagte der 91-jährige ehemalige Labour-Abgeordnete.

Dubs warb dafür, die Ausstellung an möglichst vielen Orten zu zeigen – auch im britischen Parlament. Vor allem junge Menschen sollten die Ausstellung besuchen, um zu verstehen, was geschehen sei. „Die Ausstellung ist „eine Lehre für uns alle“, sagte er. Beide Zeitzeugen sprachen sich nicht zuletzt aufgrund der eigenen Erfahrungen dafür aus, Flüchtlingen wohlwollend zu begegnen. Deutschland habe den anderen Europäern in jüngerer Vergangenheit hier ein gutes Beispiel gegeben. An die britische Regierung gewandt sagte er im Hinblick auf gegenwärtige Fluchtbewegungen: „Wenn es damals möglich war, 10 000 unbegleitete Kinder aufzunehmen, sollte das auch heute möglich sein.“

Zehn Ratschläge für die Tochter und ein Abschied für immer

Zu den bleibenden Eindrücken der Kindertransporte-Ausstellung zählen die in großen Lettern gedruckten Ratschläge, die 1939 ein Vater seiner Tochter in einem jüdischen Gebetsbuch mit auf den Weg nach England gegeben hat. Sie lesen sich wie zehn zeitlose Gebote für ein gelingendes Leben: „Vergiss nie, dass Du Jüdin bist, dass Du für das Judentum gelitten, dass Du es trotzdem oder gerade deswegen lieben musst“, heißt es da. Oder: „Vergiss trotz allem niemals Deutschland und die deutsche Sprache. Denke, dass es die Heimat Deiner Ahnen war.“ Oder: „Sei stets voll Dankbarkeit gegen die Regierung des Landes, in das Du kommst, weil es Dir Zuflucht gewährt. Sei dankbar gegen die, die Dir ihr Heim selbst öffnen.“ Der Vater, Ferdinand Brann, wurde, wie auch seine Frau und seine zweite Tochter, von den Nazis ermordet. Die überlebende Tochter Ursula nahm sich die Ratschläge ihres Vaters zu Herzen. 2015 verstarb sie in England.

Die Bundestagspräsidentin bedankt sich bei den Briten

Eröffnet wurde die Ausstellung am Dienstagabend wenige Tage nach dem internationalen Holocaust-Gedenktag im Beisein vieler Schülerinnen und Schüler und der britischen Botschafterin Jill Gallard. Sie fand lobende Worte für die Bemühungen in Deutschland, die NS-Vergangenheit aufzuarbeiten. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, die in England mehrere Zeitzeugen der Kindertransporte getroffen und einen Impuls zu der Ausstellung gegeben hatte, sprach ihrerseits von einer „beispiellosen Rettungsaktion“ und hob dabei die Rolle der Briten hervor: „Im Namen des Deutschen Bundestags danke ich Großbritannien heute für die Rettungsaktion vor 85 Jahren.“

Bas verwies darauf, „dass Judenhass gegenwärtig wieder mit erschreckender Offenheit zutage tritt – auch in der Mitte der Gesellschaft“. Sie bekräftigte: „Deutschland muss eine sichere Heimat für Jüdinnen und Juden sein und bleiben“. Es gelte, das historische Wissen lebendig zu vermitteln und an die junge Generation weiterzugeben.

Trumpf-Chefin Nicola Leibinger-Kammüller, die auch Vorsitzende des Kuratoriums der Berthold-Leibinger-Stiftung ist, betonte in ihrer Rede, seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober sei bei Juden das Gefühl der Bedrohung durch antisemitischen Hass „in einer seit Langem nicht gekannten Dimension gewachsen. Dagegen müssen wir uns als Gesellschaft mit aller Kraft zur Wehr setzen.“ „Nie wieder ist jetzt!“, sagte sie. Die Ausstellung sei auf beklemmende Weise aktuell, das zeige auch die Schändung des am Bahnhof Friedrichstraße aufgestellten Mahnmals für die Kindertransporte vor wenigen Wochen. Geschäftsführer Markus Wener, erklärte angesichts demokratiefeindlicher Tendenzen sei es ein wichtiges Anliegen der Berthold-Leibinger-Stiftung, parallel zur Erinnerungskultur das Demokratieverständnis zu fördern“. Man sei bemüht, die Kindertransporte-Ausstellung auch in Stuttgart zu zeigen.