Der Autor Ingo Schulze im Gespräch „Die Chance von 1989 wurde nicht genutzt“
Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Fischer, 320 Seiten, 21 Euro. Wie wird ein feinsinniger Bücherwurm zum neurechten Barbaren? In einem erzählerischen Dreischritt durch die jüngere deutsche Geschichte legt Ingo Schulze diese Strecke in dem raffinierten Verwirrspiel seines neuen Romans zurück: Im stilisierten Legendenton zeichnet er die Ikone eines Heiligen im himmlischen Königreich eines Dresdner Antiquariats. Doch der kultivierte Fluchtwinkel inmitten des real existierenden Sozialismus ist ein Vexierbild. Sobald sich das Blatt wendet, 1989, wird anderes sichtbar. Die Perspektive geht über auf einen Autor, den nur ein T im Namen von jenem Schulze trennt, der hier schreibt. Während er im Westen die Früchte erntet, deren Saat im Dresdner Bücherparadies gelegt wurde, haben den Antiquar die biblischen Plagen der neuen Zeiten ereilt. Aus dem Homme de Lettre wird ein Kassierer im Supermarkt, schließlich der Ziehvater eines Neonazis. Und dann kommt noch die Lektorin ins Spiel: Plötzlich erscheint der tiefe Fall des Antiquars in anderem Licht ebenso wie die Frage, zu welchen Verbrechen Büchermenschen fähig sind. Immer wieder hat der 1962 in Dresden geborene Ingo Schulze das Diesseits und Jenseits der Wende, Hoffnungen und Enttäuschungen in seinen Werken zusammengebracht. In literarischer Hinsicht zählen seine „33 Augenblicke des Glücks“ und „Simple Storys“ zu den glücklichsten Resultaten der Wiedervereinigung – weil sie daran erinnern, was alles offen blieb. Auch in seinem neuen Roman müssen sich die Leser selbst die Antwort geben auf die drängende politische Frage unserer Zeit. (Foto: Verlag)
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