Freundlich, aber bestimmt - so kannte man den Rottenburger Knut Kircher auf dem Fußballplatz. Foto: dpa - dpa

Von Sigor Paesler

Rottenburg – „Knut Kircher, Dipl.-Ing. Maschinenbau“, steht auf seiner Visitenkarte. Davon, dass er Fußballschiedsrichter war, einer der bekanntesten und besten des vergangenen Jahrzehnts, steht da nichts. Vor einem Jahr hat der heute 48-jährige Rottenburger die Altersgrenze erreicht und nach 244 Bundesliga-, 41 DFB-Pokal-, 23 Europapokal- und 12 Länderspielen seine aktive Karriere beendet. Er konzentriert sich wieder ganz auf seinen Job als Teamleiter in der Entwicklung bei der Daimler AG. In den Stadien ist der Schiedsrichter des Jahres 2012 als Beobachter aber immer noch zu sehen. Als Schiedsrichter a.D. kann er sich offener als früher über Themen äußern wie Geld, Macht, Betrug und andere Begleiterscheinungen des Fußballs – und tut das im #gEZnoch-Interview.

Ist der Fußball ein ehrliches Geschäft?

Kircher: Der Fußball – was ist das, und was bedeutet ehrlich? Es ist ein Business, in dem es um viel Geld geht und hinter den Kulissen auch um Macht, etwa in den Verbänden. Aber in erster Linie geht es darum, das Fußballspiel populär zu halten, Emotionen zu wecken und zu unterhalten. Wenn man mit ehrlich den Begriff Fair Play meint, dann ist das hier und da zu sehen, aber hier und da auch nicht – tagesform-, minuten- und spielstandabhängig.


Wenn die Fußballer auf dem Platz stehen, wollen sie gewinnen und ihren Vorteil . . .

Kircher: . . . der Hintergrund ist: Menschen verdienen mit Fußball Geld. Menschen geben Geld aus für Fußball. Es ist Angebot und Nachfrage, ein Business. Es hängen Wirtschaftsunternehmen dran, es hängen Sportler als Einzelunternehmen, so genannte Ich-AGs, dran und die sind immer daran interessiert, Geld zu verdienen. Im Profibereich hat der Fußball keinen sozialen Charakter.

Und im Amateurbereich?

Kircher: Im Low-Level-Amateurbereich sind die Vereine nicht so aufgestellt, um mit Fußball Geld zu verdienen. Sondern: Sie brauchen Geld, um den Fußball am Leben zu halten. Alleine um einen Trainer auf Basis eines Minijobs zu bezahlen, muss ein Verein in der Kreisliga über das Jahr über 5500 Euro verfügen, und die wird er nicht alleine durch Mitgliedsbeiträge einnehmen. Dazu muss er als Wirtschaftsunternehmen auftreten. Der Amateurfußball profitiert natürlich auch vom Profifußball durch den Grundlagenvertrag zwischen DFB und DFL – ob das ehrlich und gerecht ist, darüber haben sich schon viele den Kopf darüber zerbrochen.

Woran erkennen Sie eine Schwalbe?

Kircher: Die einfache Antwort ist: Ich beobachte einen Bewegungsablauf und kann idealerweise schon über ein Fallmuster erkennen, ob die Bewegung natürlich war oder nicht, ob sie durch einen äußeren Impuls gesteuert war. Ein praktisches Beispiel: Ich zupfe als Abwehrspieler kurz am Trikot meines Gegenspielers, der mir davonläuft, und unten klappen die Beine – ich habe mich schon immer gefragt, wie zum Teufel nochmal es die Spieler hinkriegen, diesen Mechanismus und diese Nervenbahnen im Körper zu entdecken, damit das passiert.

Eigentlich müssten die Beine bei diesen austrainierten Sportlern kräftig genug sein.

Kircher: Genau. Das kann einfach nicht funktionieren, da steckt etwas anderes dahinter – damit ist es ein Täuschungsversuch, eine Unsportlichkeit und somit landläufig gesprochen eine Schwalbe. Es ist immer schwierig, im schnellen Bewegungsablauf wirklich zu erkennen, ob die Aktion des Abwehrspielers ursächlich für das Fallmuster des Gegenspielers ist. Oder ob ihn der Abwehrspieler überhaupt berührt.

Es gibt Spieler, die gelten als „Schwalbenkönige“. Liegt die Öffentlichkeit da richtig? Sie können es ja jetzt verraten, Sie stehen ja nicht mehr als Schiedsrichter auf dem Platz.

Kircher (lacht): Sind wir ehrlich: Man tut den Menschen unrecht, wenn man sie als Schwalbenkönige abstempelt. Ich sehe es so: Als Schiedsrichter kenne ich doch meine Pappenheimer und weiß, welches Verhaltensmuster manche Spieler in bestimmten Situationen an den Tag legen. Dann darf ich nicht voreingenommen sein, sondern ich muss vorbereitet sein. Das ist ein kleiner, aber sehr wichtiger Unterschied. Denn wenn ich vorbereitet bin, dann stelle ich mich ganz anders darauf ein, wenn so ein Spieler in das Ballungszentrum im Strafraum läuft. Dann positioniere ich mich bestmöglich, um den besten Einblick in die Situation zu bekommen. Dann bin ich vorbereitet. Wenn ich voreingenommen bin, erleide ich Schiffbruch.

Arjen Robben fällt einem schnell ein – Sie haben bestimmt schon berechtigte Elfmeter nach einem Foul an ihm gepfiffen.

Kircher: Absolut. Ich kann mich an ein Spiel entsinnen, das war 2012, Dortmund gegen Bayern und es ging um die Meisterschaft. Robben ging mit dem Ball in den Strafraum hinein, Roman Weidenfeller kam mit einer hohen Dynamik heraus und nahm Robben die Beine weg. In der Zeitlupe im Fernsehen sah man, dass er in diesem Bewegungsablauf bereits eingeknickt ist. Aber kann man es dem Spieler verübeln, dass er den Zusammenstoß so gut wie möglich zu verhindern versucht, muss es da Verletzte geben? Die Frage ist: Wer nimmt das größere Risiko in dieser Situation?

Wie war die Entscheidung?

Kircher: Ich habe auf Elfmeter entschieden. Es gab auch Situationen, in denen ich bei Arjen Robben daneben lag. Ich möchte ihn auch nicht speziell herausheben – früher gab es die berühmt-berüchtigte Möller-Schwalbe, nachdem er mal so ein Ding gemacht hat. Kürzlich gab es auch mal eine Situation mit Arturo Vidal von Bayern München, als ich im ersten Moment aus der Realperspektive gesagt habe: Klarer Elfmeter. Dann gab es eine Kameraperspektive, die auf einmal gezeigt hat, dass da ja ein Freiraum zwischen den beiden Spielern war. Wow, habe ich gedacht, das hätte ich auch nicht gesehen. Oder kürzlich beim Spiel des VfB gegen Aue: 83. Minute, Spieler Florian Klein lässt sich im Mittelkreis fallen. Ich dachte mir: Was ist das denn, was reitet einen Spieler, das zu machen?

Seit dieser Saison spricht man plötzlich auch über Timo Werner, wegen einer Situation im Spiel von Leipzig gegen Schalke . . .

Kircher: Genau. Den Ruf wird er so schnell nicht mehr los. Erinnern Sie sich? Jürgen Klinsmann war früher der Diver.

Da können einem diese Spieler fast leidtun, oder?

Kircher: Ein Stück weit ja. Ein Stück weit aber auch wieder nicht.

Die Spieler stehen unter einen großen Druck.

Kircher: Ich habe ein Stück weit schon Verständnis für die Spieler und ich rechne auch damit, dass solche Aktionen kommen können und dass dieses Stilmittel ausprobiert wird. Es ist wie bei kleinen Kindern, die versuchen, die Grenzen auszuloten. Aber es muss klar sein: Wenn ich über diese Grenze hinausgehe, kommt eine Konsequenz. Trotz meines Verständnisses, bin ich derjenige, der in diesem großen Schaufenster der Bundesliga hergehen und sagen muss: Nein, das war zu viel, das hat die Konsequenz indirekter Freistoß und Gelbe Karte wegen Unsportlichkeit.

Kein Schiedsrichter ist vor möglicherweise spielentscheidenden Fehlentscheidungen gefeit. Gibt es eigentlich Konzessionsentscheidungen?

Kircher: Ich behaupte, eine bewusste Konzessionsentscheidung gibt es nicht. Warum? Was passiert denn, wenn man das macht? Wenn man merkt, dass man in der ersten Hälfte einen Elfmeter nicht gegeben hat . . .

. . . wie kriegen Sie das in der Halbzeit mit?

Kircher: Ich habe ja alle Möglichkeiten: Ich kann mir die Highlights in der Kabine anschauen, ich habe in der Kabine einen Laptop dabei, ich habe zuhause „Basisagenten“, die mir eine SMS schicken, die Vereinsvertreter machen mich darauf aufmerksam. Ich habe verschiedene Möglichkeiten, mich mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen.

Interessant.

Kircher: Also, wenn ich jetzt hergehe und auf der anderen Seite nach einer Situation suche, an der der Geruch eines Elfmeters dran ist, um den dann auch zu pfeifen – dann kommt auf einmal die Frage: Ist es Elfmeter oder ist es dann auch Elfmeter und Rot? Und schon ist es nicht mehr die gleiche Güte der Entscheidung. Also fängt es an wie so ein Wohnwagengespann: Der Wohnwagen fängt langsam an zu schlingern und irgendwann ist die Amplitude zu groß und patsch haut es einen von der Straße.

Sie haben Ihre Antischlingerkupplung immer im Kopf.

Kircher: Ja, das ist so. Glaubwürdiger und akzeptierter ist es immer, wenn man dann rausgeht und sagt: Sorry, das habe ich aus meiner Position so wahrgenommen und ich lag scheinbar falsch. Aber es geht trotzdem geradeaus weiter.

Was war die fairste Aktion, an die Sie sich erinnern?

Kircher: Ich habe keinen bestimmten Spieler im Kopf, mit dem ich auf dem Feld ein entsprechendes Erlebnis hatte. Es gab immer wieder Situationen, in denen ein Spieler zu erkennen gegeben hat, dass er etwa zuletzt am Ball war und es Eckball geben muss. Aber es fallen einem natürlich Spieler ein wie Miroslav Klose. Kürzlich habe ich im Fernsehen in der Champions League so eine Situation mit Mario Mandzukic gesehen, aber da stand es auch schon 2:0 für Juventus . . .

Die Spieler wollen ihren Vorteil auf dem Platz – es gibt auch Kriminelle rund um das Millionengeschäft Fußball. Gab es Versuche, Sie zu bestechen?

Kircher: Nein, in keinster Weise.

Woran lag das? Ist der Fußball in Deutschland so sauber oder denkt man bei Ihnen gleich: Beim Knut Kircher brauche ich es erst gar nicht zu versuchen?

Kircher (lacht): Wahrscheinlich, weil ich Schwabe bin und zwar alles gebrauchen kann, aber schon alles habe, was man so braucht als Schwabe. Spaß beiseite: Ich weiß es nicht, da müssen Sie diejenigen fragen, die es nie versucht haben. Aber vielleicht habe ich auch schon immer ausgestrahlt, dass ich nie in Versuchung geraten würde. Ich bin froh, dass ich nie in die Lage gekommen bin, etwas melden zu müssen. Zum Aspekt, dass Deutschland sauber ist: Es gab Beispiele, die das widerlegt haben, dass dem nicht so war in der Schiedsrichterei.

Klar, worauf Sie anspielen. Wie haben Sie das erlebt?

Kircher: Ich habe den Fall Hoyzer ja hautnah miterlebt, weil ich zu dieser Zeit auch aktiv war. Das bestürzt einen natürlich und man hinterfragt sich, wie sein eigener innerer Kompass ist, ob es Zahlen gäbe, bei denen man schwach würde und welche Werte die Schiedsrichteraufgabe ansich beinhaltet. Da gehört Unbestechlichkeit in die Top-Kategorie. Ich kann mir nicht vorstellen, ein Spiel zu verkaufen. Ich kann nicht eine Aufgabe übernehmen, die Integrität erfordert, und sie dann nicht leben.

Das deutsche Schiedsrichterwesen hat langfristig nicht unter dem Bestechungsskandal um Robert Hoyzer gelitten und besitzt einen ausgezeichneten Ruf.

Kircher: Es waren ja nur punktuelle Einschläge, Gott sei Dank. Das wurde in einem Krisenmanagement professionell bewältigt, man hat diese Menschen zurecht ausgeschlossen und bestraft. Es wurde dann natürlich nochmal sensibilisiert und es wurden gewisse Instrumentarien eingeführt wie ein polizeiliches Führungszeugnis, eine Schufa-Auskunft und eine Selbsterklärung, die die Schiedsrichter unterschreiben müssen.

Wie hat es sich in damals auf dem Platz angefühlt?

Kircher: In diese Generalhaftung kommen sie immer rein. Es heißt: DIE Schiedsrichter und in diesem Moment gelten alle als bestechlich. Es wurde in dieser Phase von der Tribüne mit Geldscheinen gewedelt oder nach einer Fehlentscheidung hat das Publikum „Hoyzer, Hoyzer“ skandiert. Angenehm war das nicht.

Wie wurde das unter den Schiedsrichterkollegen diskutiert?

Kircher: Es ist ja klar, dass das den ganzen Laden in Aufruhr versetzt hat. Das ist ähnlich wie im Moment in der Automobilindustrie der Dieselgate (lacht).

Würden Sie es von der Tribüne oder vor dem Fernseher aus erkennen, wenn ein Spiel verschoben wird?

Kircher: Nein. Aber ich möchte ihnen von einem Erlebnis erzählen, das ich hatte: Ich habe mal ein Vorbereitungsspiel geleitet zwischen dem SSV Ulm und Fenerbahce Istanbul mit Christoph Daum als Trainer. Das Spiel ging standesgemäß aus, ich glaube 1:6. Alles war okay. Am nächsten Tag habe ich einen Anruf von einem Schiedsrichterverantwortlichen bekommen. Er hat mich darüber informiert, dass beim Sportwettenanbieter Betradar dieses Spiel ausgeschlagen hatte. Ich war völlig vor dem Kopf gestoßen. Ich wurde automatisch gefragt, ob ich etwas festgestellt habe. Das hat sich dann wieder im Sande verlaufen, es war ein Fehlalarm. Aber es war ein sehr beklemmendes Gefühl, sich fragen zu müssen, ob man plötzlich ein Zettelchen angeheftet bekommt, das man nicht mehr losbekommt: Bestechlich, nicht mehr integer. Das ist wie mit dem Zettel des Schwalbenkönigs.

Das ist gut ausgegangen und es ist nichts haften geblieben.

Kircher: Ein anderes Beispiel: Mein Schiedsrichterkollege Jürgen Jansen wurde nach einem Spiel zwischen Dresden und Freiburg beschuldigt, er habe von der Wettmafia um Ante Sapina Geld angenommen. Er wurde angefeindet und ist untergetaucht. Es hat sich dann herausgestellt, dass Ante Sapina dem Schiedsrichterbetreuer in Dresden 10 000 Euro gegeben hat, Jürgen Jansen davon aber nie etwas mitbekommen hat, er wurde diesbezüglich von dem Schiedsrichterbetreuer nie kontaktiert. Aber sein Name als Schiedsrichter war beschmutzt, er war erledigt und hat seither nie wieder ein Fußballspiel gepfiffen. So will man doch nicht aufhören.

In solchen Situationen gibt es bestimmt eine große Solidarität zwischen den Schiedsrichtern. Aber ist diese Branche frei von Intrigen und Missgunst? Etwa, wenn es darum geht, aufzusteigen oder international zu pfeifen? So etwas dringt zumindest nicht nach außen.

Kircher: Das muss es auch nicht. Bei einer Mannschaft dringen solche Dinge ja auch selten nach außen. Zunächst ist es so, dass man versucht, durch seine Leistung das Teamgefüge zu stabilisieren. Natürlich gibt es auch unter Schiedsrichtern Konkurrenz, ein Spiel kann nur einer pfeifen. Aber am Ende haben alle das gemeinsame Ziel, eine Bundesligasaison so sauber wie möglich über die Bühne zu bringen. Man denkt vielleicht schon mal: Das wäre auch ein Spiel für mich gewesen. Andererseits kann man auch anerkennen, wenn ein Kollege bei einem Top-Spiel eine gute Leistung gebracht hat. Dann hindert einen keiner daran, eine SMS zu schreiben: Hey, super gemacht. Es gibt aber alle Stimmungen unter den Schiedsrichtern. Es ist wie in einer Ehe.

Die Ehe von Knut Kircher und der Schiedsrichterei ist gut gelaufen. Oder fehlt ihnen mit etwas Abstand etwas?

Kircher: Das liegt an der Sichtweise. Ich habe mich nie gegrämt, oder zumindest nie lange. Ich habe mich nie gefragt, was ich alles hätte erreichen können. Es war anders herum: Ich bin 1986 nicht mit dem Ziel angetreten, Bundesligaspiele zu leiten – ich habe es irgendwann erreicht. Es war super, was ich national und international alles erleben durfte. Ich war nie bei Welt- und Europameisterschaften, habe nie ein Chamions-League-Finale gepfiffen – ich werde oft gefragt, ob mir da nicht was fehlt. Ich sage dann: Nö. Ich hatte eine wunderbare Zeit als Schiedsrichter und konnte mich gut darauf vorbereiten, dass irgendwann Schluss ist. Ich habe es genossen.