Prof. Dr. Flachenecker: Der Nachweis fehlt. Placebo-Effekt ist wissenschaftlich nicht ausgeschlossen. Quelle: Unbekannt

„Es fehlt die wissenschaftliche Evidenz“: Professor Peter Flachenecker argumentiert gegen das Coimbra-Protokoll und sagt: „Bei jeder Behandlung gibt es einen ausgeprägten Placebo-Effekt.“

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Wissenschaftlich ist nicht bewiesen, ob und wie das Coimbra-Protokoll hilft. Zwar ist mittlerweile gut belegt, dass Vitamin D einen Einfluss auf die Entstehung von MS hat. Das erklärt, warum die Krankheit öfter in sonnenarmen Regionen auftritt. Aber was hochdosiertes Vitamin D bewirkt, wenn man bereits an MS erkrankt ist, das ist weit weniger klar. Da sind zwar Studien auf dem Weg, diese sind aber entweder noch nicht abgeschlossen oder haben diesbezüglich ein negatives Ergebnis gehabt, wie beispielsweise die großangelegte SOLAR-Studie.

Auch wenn Vitamin D wohl ungefährlich ist, kann es bei sehr hoher Dosierung wie im Coimbra-Protokoll zu einem erhöhten Kalziumspiegel im Blut kommen, mit entsprechenden Folgeerscheinungen (Bewusstseinsstörung, Steinbildung). Zudem stellt das Protokoll eine Belastung für die Patienten dar, sowohl durch die damit verbundenen Kontrolluntersuchungen und Einschränkungen der Lebensweise als auch finanziell. Angesichts des fehlenden Wirksamkeitsnachweises halte ich daher diese Belastungen und gesundheitlichen Risiken für nicht vertretbar.

MS ist unvorhersehbar, sie verläuft nicht linear. Die Patienten, die über eine Verbesserung mit dem Coimbra-Protokoll berichten, hätten möglicherweise auch ohne diese Therapie eine Besserung erfahren. Wir wissen aus vielen kontrollierten Studien, dass es bei jeder Behandlung einen ausgeprägten Placebo-Effekt gibt. Dagegen gibt es mittlerweile 16 zugelassene Substanzen, bei denen in großangelegten, kontrollierten und doppel-blinden Studien nachgewiesen ist, dass sie die Schubrate, die Behinderungsprogression und die Endzündungstätigkeit in der Kernspintomografie reduzieren können. Darauf basiert unsere wissenschaftlich orientierte Medizin, und nur dafür bezahlt unser Gesundheitssystem. Ich will ja nicht abstreiten, dass Vitamin D hilft. Aber in diesem Fall fehlt die wissenschaftliche Evidenz. Nur mit einer Doppelblindstudie könnte man den Placebo-Effekt ausschließen. Daher sehe ich das Coimbra-Protokoll kritisch. Unabhängig davon ist die medizinisch sinnvolle Therapie mit Vitamin D bei erniedrigten Serumspiegeln oder die Einnahme von Vitamin D vor allem in den Wintermonaten zu sehen. 1000 bis 2000 Einheiten pro Tag rate ich meinen MS-Patienten.

Einnahme von Familienangehörigen

Bereits ein Aufenthalt von 20 bis 30 Minuten mit unbedecktem Gesicht, Händen und Unterarmen in der Sonne führt (im Sommer) zur Bildung von mehreren Tausend Einheiten Vitamin D in der Haut. Bei Ganzkörperbestrahlung (Sonnenbad) bis zur minimalen Erythemdosis (Sonnenbrand) werden bis zu 100.000 IE Vitamin D gebildet – deutlich mehr als bei Coimbra und darüber hinaus ohne Nebenwirkungen.

Es existieren zudem keine Interventionsstudien, die den Effekt einer generellen Prophylaxe mit Vitamin D belegen – zumal man vor allem die MS damit auch nicht verhindern kann, da Vitamin D nur einer von vielen Faktoren ist. Empfehlenswert ist die Einnahme aber bei den Familienangehörigen der 10 bis 15 Prozent, die eine familiäre MS haben.

Der Tagesbedarf liegt bei 400 IE für einen Erwachsenen und 800 IE bei Schwangeren und Kindern. 4000 IE sind nach jetzigem Stand der Wissenschaft ungefährlich, deshalb ist das die Höchstdosis. Ob diese besser ist als 1000 IE, wissen wir nicht. Sinnvoll bei MS ist es, den Spiegel zu bestimmen und in Abhängigkeit davon Vitamin D bis zu dieser Höchstdosis zu substituieren. (aufgezeichnet: fs)

Professor Peter Flachenecker ist Chefarzt des auf Multiple Sklerose (MS) spezialisierten Neurologischen Rehabilitationszentrums Quellenhof in Bad Wildbad und Vorsitzender des Ärztlichen Beirates der AMSEL, Landesverband der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft (DMSG) in Baden-Württemberg.