Manfred Lucha (Bündnis 90/Die Grünen), Sozialminister von Baden-Württemberg. Foto: dpa - dpa

Sie mussten ihr Erbrochenes essen, wurden geschlagen, als Bettnässer vorgeführt. Schicksale Tausender Heimkindern der Nachkriegsjahrzehnte erschüttern bis heute. Viele haben vertuscht, fast alle weggeschaut.

Stuttgart (dpa/lsw)Geschlagen, gedemütigt, gezeichnet fürs Leben. Sozialminister Manne Lucha (Grüne) hat sich im Namen der Gesellschaft bei den ungezählten Opfern mangelhafter und gewalttätiger Heimerziehung in der Nachkriegszeit entschuldigt. Kindern und Jugendlichen Schutz zu bieten, sei eine der wichtigsten Aufgaben. Eine Studie des Landesarchivs zur Heimerziehung zwischen 1949 und 1975 zeige, «dass wir dieser Aufgabe zur damaligen Zeit nicht gerecht geworden sind». Niemand könne das tausendfach erfahrene Leid rückgängig machen, sagte der Grünen-Politiker am Mittwoch. «Aber wir brauchen den Mut, dass wir es in Zukunft besser machen.»

Das Landesarchiv Baden-Württemberg hat in den vergangenen sechs Jahren gut 1800 ehemaligen Heimkindern geholfen, mehr über ihr Schicksal zu erfahren. In fast allen Fällen habe man helfen können, berichtete Professor Christian Keitel vom Landesarchiv, in 70 Prozent habe Zugang zu konkrete Akten bieten können. Nicht selten seien Missstände zutage getreten, berichtete Historikerin Nora Wohlfarth, bis hin zu sexualisierter Gewalt. Vieles lasse ihn beklommen und fassungslos zurück, sagte Lucha.

Zwangsarbeit, systematische Demütigung und Disziplinierung durch Schläge - für viele Heimkinder gehörte in den 1950er- und 1960er-Jahren seelischer und körperlicher Missbrauch zum Alltag. Genaue Zahlen haben die Experten nicht parat. Von Züchtigungen und Missbrauch seien aber alle Heimformen betroffen gewesen - vom kirchlichen bis zum Erholungsheim. «Es gab flächendeckende Missstände, aber auch ein gesellschaftliches Desinteresse.»

Besonders erschreckt habe sie, dass Vieles in den Heimen bekannt war und nicht selten sogar in Akten vermerkt war. Passiert sei nicht. Es gebe sogar Fälle, in denen Erzieher wegen sexualisierter Gewalt verurteilt wurden, später aber dennoch wieder eingestellt worden seien. Wohlfarth berichtete von Gewaltausbrüchen von Erziehern, nach denen die Kinder in den Schrank gesperrt wurden, bis die Wunden nicht mehr zu sehen waren. Andere mussten ihr Erbrochenes essen oder wurden als Bettnässer vorgeführt.

Das alltägliche Vertuschen damals gepaart mit gesellschaftlichem Desinteresse habe ein Dunkelfeld entstehen lassen, so Lucha. Hinzu komme, dass Gewalt als Erziehungsmittel damals gesellschaftsfähig gewesen sei. Die Ohrfeige war sozusagen «normal», so Wohlfarth. Der Erziehung lag das negative Bild des frechen, sündhaften oder bösen Kindes zugrunde. Härte, Strafen und Gewalt waren Alltag. Heute sei beim gesellschaftlichen Schutz von Kindern «oberste Pingeligkeit angezeigt», betonte Lucha. Jedes Tun gelte es zu überprüfen, nichts dürfe verborgen bleiben. «Dafür müssen wir jeden Tag ringen.»

Über den Fonds «Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975», der seit 2012 existierte, wurden bundesweit 300 Millionen Euro für mehrere Tausend Betroffene bereitgestellt. Baden-Württemberg beteiligte sich an dem bundesweiten Fonds mit gut 16 Millionen Euro. Sachleistungen sollen den Alltag der Betroffenen erleichtern. Bezahlt werden zum Beispiel Therapien oder ein altersgerechter Umbau der Wohnung, damit die Betroffenen nicht wieder in einem Heim leben müssen. Bis zu 10 000 Euro für Sachleistungen konnte ein ehemaliges Heimkind erhalten. Mehr als 2000 Betroffene im Südwesten haben nach letzten Meldungen Unterstützung erhalten. Künftig soll ein Ombudssystem in der Jugendhilfe Unterstützungsangebote für Kinder- und Jugendliche und deren Familien leichter zugänglich machen.