Quelle: Unbekannt

Personalnot und Einsatzbelastung erreichen neue Höchstwerte. Theoretisch hätte jeder Stuttgarter Beamte weitere zwei Wochen Urlaub.

StuttgartKeine Ruhe in der Stadt. Vor allem nicht rund um den Hauptbahnhof. Eben ist es ein 37-Jähriger, der die Polizei frühmorgens beschäftigt, nachdem er in der Klett-Passage an der Stadtbahn-Haltestelle einer Frau ins Gesicht gespuckt hat. Die 59-Jährige hatte ihn zuvor in einem Kiosk ermahnt, die Ware nicht in die Hosentasche zu stecken, sondern an der Kasse zu bezahlen. Das ist jetzt die Quittung. Eine Streife rückt sofort aus. Der Mann ist polizeibekannt, er leistet auch im Streifenwagen Widerstand.

Nein, es ist undenkbar, hier die verstärkte Präsenz von bis zu 100 Beamten wieder abzubauen. Anfang 2016 war die Sicherheitskonzeption Stuttgart, eine Schwerpunktaktion von Landes- und Bundespolizei in der Innenstadt, begonnen worden. Übergriffe nordafrikanischer Täter in Köln waren mit der Auslöser gewesen. Die Verstärkung bleibt notwendiger denn je. Drogenhandel, Gewaltdelikte unter Gruppen, Diebstähle – täglich ist die Polizei gefordert.

Deutschlandtour, Weindorf, Protestveranstaltungen, Auseinandersetzungen von Linken gegen Rechte – es gibt viel zu tun. An diesem Dienstag steht eine Anti-Terror-Übung im Stuttgarter Hauptbahnhof mit Hunderten Beamten von Bundes- und Landespolizei auf dem Kalender, am Freitag ist ein linker Großprotest angesagt gegen die rechte „Demo für alle“, die gegen die Rechte von sexuellen Minderheiten agitiert.

Fast zwei Millionen Überstunden

Keine Ruhe in der Stadt, keine Ruhe in der Polizei: fast zwei Millionen Überstunden bei den Präsidien im Land, ein neuer und alarmierender Höchstwert. Die Hälfte davon läuft bei den Einheiten des Polizeipräsidiums Einsatz in Göppingen auf, die überall dorthin ausrücken und Löcher stopfen müssen, wo’s brennt. Doch auch die Stuttgarter Polizei allein erreicht besorgniserregende Rekorde: 162 000 Überstunden – so viele gab es nicht einmal zum Höhepunkt des Kurden-Konflikts 1999, als PKK-Führer Öcalan in der Türkei verhaftet wurde und es zu brisanten Protesten kam. Im selben Jahr hielten auch der Kosovo-Krieg und andere Anlässe für brisante Demonstrationen die Polizei in Atem. Und da waren es – nur – 150 000 Überstunden.

„Die hohe Polizeipräsenz in Stuttgart muss sich irgendwo niederschlagen“, sagt Polizeipräsident Franz Lutz. Die Überstundenzahl sei „ein Spiegelbild der Arbeitsbelastung und der Personaldecke“. 2300 Stellen gibt es – doch längst nicht alle sind besetzt. In einzelnen Polizeipräsidien fehlen 18 Prozent der Belegschaft. Auch wenn Tages- und Schichtdienst unterschiedlich betroffen sind: Statistisch könnte jeder Stuttgarter Beamte zwei Wochen Urlaub zusätzlich machen. „Das lässt sich nicht mehr in Freizeit ausgleichen“, sagt Lutz, „das geht nur finanziell.“

Die Überlegungen im Innenministerium, die 150 Reviere im Land daraufhin zu überprüfen, ob einzelne vorübergehend nachts geschlossen werden, lehnt der Stuttgarter Polizeichef ab. „Das kommt für Stuttgart nicht infrage“, sagt er. Immerhin hat er schon in Degerloch, im Süden, in Untertürkheim und im Posten in der Klett-Passage nachts das Licht gelöscht.

Die obere Grenze der Überstunden sieht Landesvorsitzender Ralf Kusterer von der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) im Beamtenbund jetzt erreicht. „Präventive Streifen gibt es immer weniger“, sagt Kusterer, „die Beamten sind mit Einsätzen im Dauerauftrag.“ Die Pflicht komme vor der Kür. Man müsse dringend mehr für die Verkehrssicherheit tun, aber das gehe nicht. Wenig anders sieht das der Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Hans-Jürgen Kirstein: „Man muss Aufgaben abgeben“, sagt er, „und da wäre die Stadt gefordert.“ Die Misere sei seit 2006 erkennbar gewesen. Die auf jedes Revier im Land festgelegten Fangquoten für Gurtmuffel und Raser sieht Kirstein kritisch: „Man setzt immer einen drauf auf dem Rücken der Kollegen“, sagt er.

Das Innenministerium vertröstet. Bis 2021 habe das Land 232 Beamte mehr. „In den folgenden zwei Jahren kommen jeweils 500 dazu“, sagt Sprecher Renato Gigliotti. 1500 zusätzliche Stellen entfalteten dann 2024 ihre volle Wirkung. Zum Glück gibt es noch Nachwuchs – durch die Alten: 557 Pensionäre haben verlängert.

Bahnhof: Der Hauptbahnhof Stuttgart wird in der Nacht zum Mittwoch Schauplatz eines außergewöhnlichen Polizeieinsatzes: Die Landes- und die Bundespolizei üben dort gemeinsam mit der Feuerwehr für den Ernstfall eines Terroranschlags. Die Aktion hat auch einige Auswirkungen für die Bahnreisenden, da Teile des Bahnhofs großflächig dafür gesperrt werden müssen.

Organisation: Unterstützt werden die Polizeibeamten von der Deutschen Bahn und von der Stuttgarter Feuerwehr. Insgesamt nehmen rund 1000 Personen an der groß angelegten Übung teil. Die Einsatzkräfte sind zugange in der Nacht vom Dienstag, 11. September, zum Mittwoch, 12. September, in der Zeit von 20 Uhr bis 5 Uhr im Hauptbahnhof und auf einem Gelände davor.

Bahnverkehr: Ab 20 Uhr am Dienstagabend sind mehrere Bereiche des Stuttgarter Hauptbahnhofs abgesperrt. Dazu zählen die Bahnsteige 1 bis 6 und der entsprechende Abschnitt der Empfangshalle. Die Polizei stellt vor diesen Arealen Sichtschutzzäune auf. Ein solcher steht auch im Bereich des Taxistandes vor dem Bahnhof. Laut der Deutschen Bahn ist der Zeitraum so gewählt, dass der Verzicht auf die sechs Gleise den Zugverkehr nicht einschränkt. Gleisverlegungen der Züge sind jedoch nötig. Reisende sollen sich daher rechtzeitig informieren, von welchem Gleis ihr Zug abfährt. Die Polizei wird mit Platzpatronen – also nicht mit scharfer Munition – schießen und Explosionen simulieren. Das wird man hören. Davor warnt die Polizei sensible Zeitgenossen. Die Bahn wird mit Durchsagen in den Zügen darauf hinweisen.

Termin: Ähnliche Übungen hat die Polizei bereits in Berlin, Leipzig, Frankfurt am Main, Hannover und München an den dortigen Hauptbahnhöfen absolviert. Für Stuttgart habe man sich keineswegs absichtlich den Tag ausgesucht, an dem im Jahr 2001 der Terroranschlag auf das World Trade Center in New York begangen wurde, sagt dazu Jonas Große, der Sprecher der Bundespolizei. Das Datum sei zustande gekommen, als man einen für alle beteiligten Dienststellen möglichen Termin gesucht habe. Die Polizei werde aber mit der Symbolik des 11. September verantwortungsbewusst umgehen, versichert der Sprecher. Was genau im Stuttgarter Bahnhof geübt wird, bleibt aus naheliegenden Gründen zum größten Teil geheim: Die Polizei will sich von potenziellen Gefährdern nicht in die Karten schauen lassen.