Berührungsängste zwischen Schülern und Heimbewohnern gibt es nur selten, hat „Anderland“-Initiator Wolfgang Strobel (links) festgestellt. Quelle: Unbekannt

Von Andrea Eisenmann

Stuttgart - Ein kleiner Stein, der ins Wasser geworfen wird, kann große Kreise ziehen. So wie Wolfgang Strobels „Stein“. 2004 absolviert der Stuttgarter eine Ausbildung zum „Mentor für Bürgerbeteiligung“. Aufgabe für alle Teilnehmer ist es, sich ein soziales Projekt auszudenken. Innovativ soll es sein, lautet die Vorgabe. Seit einem Jahr etwa hilft Strobel zu diesem Zeitpunkt ehrenamtlich als Betreuer im Gradmannhaus, einem Zentrum für Menschen mit Demenz und Betreutes Seniorenwohnen im Stadtteil Kaltental, mit. Und er liest 14-tägig kleinen Leseratten in der Bücherei vor. Wie wäre es, überlegt sich der pensionierte Lehrer, die alten Menschen mit Kindern zusammenzubringen? Ihnen bereits in jungen Jahren die Unwissenheit und Angst vor einer Krankheit wie Alzheimer zu nehmen? Sein Projekt nennt er „Besuch im Anderland“. Denn anders, sagt er, „sind eigentlich alle Menschen“.

Die Grundschule Kaltental ist Strobels erste „Station“. Worum es an diesem Tag in seinem Unterricht geht, bleibt geheim. Stattdessen nimmt er die Drittklässler auf eine Zeitreise mit. Es geht ins Jahr 1901, der Ort: ein Krankenhaus in Frankfurt. Ein Assistenzarzt steht am Bett einer Patientin und fragt diese nach ihrem Vornamen. „Auguste“, antwortet die 51-jährige Frau. Als er nach dem Familiennamen und dem Namen ihres Mannes fragt, erhält er dieselbe Antwort. Ganz offensichtlich scheint die Frau verwirrt zu sein. Auf die Frage nach ihrem Wohnort antwortet sie: „Ach, Sie waren doch schon bei mir zuhause.“ Wenige Minuten später werden die Schüler von Wolfgang Strobel erfahren, dass es sich bei dem Arzt um Alois Alzheimer handelt, der die „eigenartige Krankheit der Gehirnrinde“ als erster intensiv untersuchte und dessen Namen sie seither trägt.

Viele Fragen

„Die Akte Auguste Deter ist ein guter Einstieg in das Thema“, hat der 74-Jährige festgestellt. 45 Minuten dauert der Vorbereitungsunterricht, bei dem Strobel kindgerecht erklärt, was mit den Betroffenen passiert. Nicht selten wird er anschließend von seinen jungen Zuhörern mit Fragen bombardiert - beispielsweise, ob die Krankheit ansteckend sei. In einer Schule in Bayern hätten ihm zwei Schüler kürzlich erzählt, dass ihr Opa dement sei. „Sie wussten bereits etwas über das Thema. Das ist jedoch die Ausnahme.“

Beim nächsten Treffen sind die Schüler vor Ort in einem Pflegeheim und lernen Alzheimer-Patienten kennen. Jeder Besuch läuft anders ab. Manchmal singen und musizieren die Kinder, manchmal sitzen Patienten und Schüler gemischt in einem Stuhlkreis, spielen mit Luftballons oder falten Papierschiffchen. Die Stimmen und das Lachen der Kinder schaffen es mitunter, in Alzheimer-Patienten Erinnerungen an ihre eigene Kindheit wach zu rufen. Wenngleich nur für einen kurzen Moment. „Ach, ist das schön“, ist dann zu hören. „Eine Frau“, erzählt Strobel, „rief einmal erfreut aus, dass sie früher auch so ein Mädchen gehabt hätte.“ Bei Patienten, die sich aufgrund des fortgeschrittenen Krankheitsbildes nicht mehr artikulieren können, deutet sich manchmal ein Lächeln um die Mundwinkel an.

Es sind Momente, in denen der Stuttgarter spürt, wie viel Positives die Begegnungen bewirken - für beide Seiten. Und wie wichtig es ist, mehr Bewusstsein für die Krankheit zu schaffen und diese in der Öffentlichkeit raus aus der Tabuzone zu holen. Manchmal besucht Strobel vorab Elternabende, um skeptische Väter und Mütter von seinem Projekt zu überzeugen und ihnen die Angst zu nehmen, ihre Kinder könnten etwas erleben, dass sie nicht verstehen.

Kreise gezogen

Strobels „Stein“ hat Kreise gezogen: Im Stadtgebiet beteiligen sich derzeit neun Grundschulen und Pflegeeinrichtungen an dem Projekt. Auch außerhalb Stuttgarts ist man auf den 2009 gegründeten Verein aufmerksam geworden: Bewohnern im „Anderland“ wurde unter anderem in Berlin, Dortmund, Leonberg oder Konstanz ein Besuch abgestattet. Für sein unermüdliches Engagement wurde der 74-Jährige im Herbst vergangenen Jahres als einer von zehn Bürgern mit dem Titel „Stuttgarter des Jahres“ geehrt. Derzeit arbeitet der ehemalige Lehrer an einem Konzept zum Thema „Alzheimer“ für weiterführende Schulen. Nach seinem größten Wunsch gefragt, muss Strobel nicht lange nachdenken. „Ich hoffe, dass das Thema in allen Bundesländern in den Bildungsplänen verankert wird.“ Er hält kurz inne und lächelt. „Auch wenn das bedeutet, dass sich unser Projekt dann erübrigt hätte.“