Bodenkundler Andreas Lehmann von der Universität Hohenheim steht in der S-21-Baugrube im Zentrum Stuttgarts. Der Wissenschaftler will anhand von Bodenproben neue Erkenntnisse über die Geschichte Stuttgarts gewinnen. Foto: Lichtgut/Julian Rettig - Lichtgut/Julian Rettig

Archäologen und Bodenkundler nutzen die Aushubarbeiten für den S-21-Tiefbahnhof. Sie finden Gegenstände aus vergangenen Zeiten und analysieren Bodenproben. Dabei kommen sie zu überraschenden Erkenntnissen.

StuttgartWie entstand die Stadt Stuttgart? Wie haben die ersten Menschen im Talkessel gelebt? Was ist in den Jahrtausenden passiert? Auf diese Fragen suchen nicht nur Historiker und Archäologen Antworten, sondern auch Bodenkundler. Wie Detektive können sie aus Spuren im Boden landschafts- und siedlungsgeschichtliche Entwicklungen ablesen – auch in Stuttgart. Seit mehr als zwei Jahren untersuchen die Experten das Erdreich im Talkessel, das durch die S-21-Arbeiten zugänglich wird, und blicken so zurück auf eine Zeitspanne von 12.000 Jahren. „Wir bekommen neue Perspektiven zum Verständnis der Vergangenheit“, sagt der Bodenkundler Andreas Lehmann von der Universität Hohenheim. So gibt es neue Erkenntnisse zum Kohleabbau am Kriegsberg im 17. Jahrhundert. Und es kann neuerdings nicht mehr ausgeschlossen werden, dass sich im Talkessel schon 4.000 vor Christus Menschen angesiedelt haben. Doch das sei nur der Anfang, sagt Lehmann.

Erkenntnisse über die Entstehung Stuttgarts

Der Wissenschaftler steht in der S-21-Baugrube im Zentrum Stuttgarts. Im Hintergrund grüßt die Schalkonstruktion, in der die Kelchstützen des Architekten Christoph Ingenhoven wachsen. Lehmann balanciert am Rand eines 20 Meter langen und fast zwei Meter tiefen Grabens, den ein Kleinbagger für das Team des Wissenschaftlers ausgehoben hat. In das freigelegte Erdreich werden U-förmige Schienen gedrückt, in die der Boden gepresst wird. Aneinandergelegt zeigen die Schienen den Aufbau des Bodens über mehrere Meter hinweg. Was für Laien wie eine Stange belanglosen Drecks aussieht, soll den Experten der Universitäten Hohenheim, Tübingen und Mainz eine spannende Geschichte erzählen – die Geschichte der Entstehung Stuttgarts.

Analyse von Bodenproben

An diesem Nachmittag geht es darum, Proben zu entnehmen und zu sichern. Darin finden sich Schwermetalle, Pollen und Reste von organischen Materialien, die später in Verfahren analysiert werden. Dabei ist die Schichtung wichtig: Je tiefer ein Material im Boden ist, desto älter ist es. Das lässt Schlüsse über die Landschafts- und Kulturgeschichte des Talkessels zu, die weit über das hinausgehen, was wir heute wissen. „Wir haben einen Zeitraum bis 10. 000 Jahre vor Christus im Blick“, sagt Lehmann. Das Areal zwischen dem Bahnhofsturm und dem Planetarium gilt als sehr interessante Stelle. Der Nesenbach und seine Seitenbäche haben den Talkessel überflutet und schwemmten Sedimente an, Hangrutschungen sorgten für weiteres Material, das sich konserviert hat. Andreas Lehmann jedenfalls ist begeistert. Im Planfeststellungsbeschluss für die S-21-Arbeiten im Mittleren Schlossgarten war vor mehr als einem Jahrzehnt von „geringwertigen, stark gestörten Böden“ die Rede, die eine besondere archäologische Baubegleitung nicht nötig machten. Eine Fehleinschätzung, wie sich zeigen sollte (und nicht die einzige bei S 21).

Neue Erkenntnisse zum Kohleabbau

Der Inhalt der Erdschichten lässt nach Untersuchungen Aussagen zu, wann der Nesenbach durch Hochwasser welche Stoffe eingetragen hat, welche klimatischen Verhältnisse herrschten und ob es menschliche Einflüsse gab – etwa durch Verbrennung von Holz oder Düngung. Dabei gibt es die Hoffnung, anhand der Pollenanalysen bestimmte Pflanzen zu identifizieren, die wie Spitzwegerich auf Aktivitäten des Menschen hinweisen. So ist mittlerweile bestätigt, dass es im Mittleren Schlossgarten vom 13. Jahrhundert bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts zahlreiche Überschwemmungen durch den Nesenbach gab. Dem Rätsel, warum sich hohe Vanadium-Konzentrationen – ein Hinweis auf Kohlebergbau – im Talkessel fanden, kamen die Wissenschaftler erst auf die Spur, als sie auf den Stuttgarter Historiker Harald Schukraft trafen. Der wies sie darauf hin, dass es am benachbarten Kriegsberg Kohleflöze gab, die Herzog Friedrich I. ab 1596 ausbeuten ließ, um Brennstoff zu haben. Die Gesteinsreste wurden wohl für Aufschüttungen bei der Erweiterung des herzoglichen Lustgartens im Talkessel verwendet.

Hintergrund

Funde

Bei den Aushubarbeiten für den S-21-Tiefbahnhof sind zahlreiche Funde gemacht worden. Im Jahr 2012: steinerne Porträtbüste aus der Mitte des 15. Jahrhunderts; im Jahr 2013: Kanal aus Schilfsandsteinplatten aus dem 19. Jahrhundert; im Jahr 2014: Kanal aus Schilfsandsteinplatten aus dem 17. Jahrhundert, römische Brennöfen für Ziegel und Keramik sowie alemannische Siedlungsspuren aus dem 2. und 4. Jahrhundert; im Jahr 2015: drei bronzezeitliche Gräber mit Skeletten; 2018: Kanäle aus dem 16. und 17. Jahrhundert.

Film

In dem Projekt zur Landschafts- und Kulturgeschichte im Mittleren Schlossgarten arbeiten interdisziplinär mehrere Wissenschaftler aus den verschiedenen Bereichen zusammen. In einem Film soll die wissenschaftliche Begleitung der S-21-Aushubarbeiten künstlerisch umgesetzt werden.

Die Medienkünstler Stefan und Benjamin Ramirez Pérez sollen dabei „die Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen“ aufgreifen. Dafür haben die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) mit Sitz in Stuttgart, die Universitätsbünde Hohenheim und Stuttgart sowie auch das Landesamt für Denkmalpflege eine entsprechende Finanzierung für das Projekt in Aussicht gestellt. Der Film soll dann über die Online-Portale der Universitäten und des Naturkundemuseums veröffentlicht werden. (dud)