Von Thomas Krazeisen

Nürtingen - Heimat war - und blieb zeitlebens - ein schwieriges Thema für Peter Härtling. Das gilt insbesondere auch für seine Beziehung zu Nürtingen, jener Stadt, die für die heimatlosen Härtlings eigentlich Rettung bedeutete. 1941 waren sie nach Mähren übergesiedelt. Dann die Flucht vor der Roten Armee. Wochenlang waren der zwölfjährige Bube, seine jüngere Schwester, Mutter, Großmutter sowie eine Tante unterwegs. Sie mussten in Güterwaggons auf Strohlagern kampieren, um nach einer wochenlangen Irrfahrt in Nürtingen „an Land geworfen“ zu werden, wie es Peter Härtling im Rückspiegel seines 1990 erschienenen autobiographischen Romans „Herzwand“ formulierte. Über Wien, Passau und Wasseralfingen waren die Geflüchteten 1946 in die Neckarstadt gelangt: Endstation einer Odyssee. Doch in der Dichterstadt erwartete sie kaum Willkommenspoesie, sondern vor allem die raue Prosa des Nachkriegsalltags. Argwohn, Distanz und misstrauische Blicke der Einheimischen trafen die im Schwäbischen Gestrandeten, die jenen „als Knoblauchfresser, als Paprikafresser galten“, wie sich Peter Härtling im vergangenen Jahr in einem „Chrismon“-Interview an die ersten Eindrücke in Nürtingen erinnerte.

Harte Tatsachen

In der Hölderlinstadt erfuhren die Neuankömmlinge nicht nur vom Tod des Vaters, der bereits 1945 in russischer Gefangenschaft gestorben war. Hier endete für Peter Härtling auch jäh seine Kindheit, die ohnedies schon von der Last dunkler Bilder fast unerträglich beschwert war. Wenige Monate nach der Ankunft in Nürtingen nahm sich die Mutter Erika, die noch auf der Flucht im niederösterreichischen Zwettl von einem russischen Offizier vergewaltigt worden war, mit einer Überdosis Tabletten das Leben. Der Suizid der Mutter muss wie ein Stich mitten ins Herz des Gymnasiasten gewesen sein. „Sehr jung“, nämlich erst 35 Jahre alt, sei sie gewesen, heißt es im „Herzwand“-Roman, in dem Härtling das Trauma literarisch aufzuarbeiten suchte. Mit dem Verlust der Mutter verhielt es sich für die Waise nicht anders als mit dem soeben beendeten Krieg, von dem Härtling in der Rückschau schrieb: Er „hält uns alle besetzt, in unseren Köpfen brüllt er weiter“.

Der Schrei der toten Mutter wollte nicht verstummen. „Sie soll wie ein Christenmensch beerdigt werden (…), auch nach diesem Tod“, lässt Härtling im Roman den Pfarrer sagen. Tatsächlich bekam Erika Härtling als „Selbstmörderin“ ein Grab ganz am Rande des Nürtinger Friedhofs - ohne Kreuz. „Wir Kinder“, heißt es im „Chrismon“-Interview, „haben das Grab allein dadurch erkannt, dass dort ein Fliederbaum wuchs.“ Gewissermaßen als Kreuz- und Erinnerungszeichen. Doch als Anfang der 50er-Jahre der alte Friedhof aufgegeben wurde, verwuchs die Grabstätte - bis sie schließlich nicht mehr zu identifizieren war. Peter Härtling hat für seinen Schmerz über das verlorene Grab der Mutter 1977 im Gedicht „Der Alte Friedhof in Nürtingen“ berührende Worte gefunden. Dass er, der schon bald nach der Aufgabe des alten Friedhofs von Nürtingen weggezogen ist, jemals wieder das Grab der Mutter würde besuchen können, glaubte Peter Härtling auch viele Jahre später selbst nicht mehr.

Unerwartetes Glück

Dass er dann im Mai dieses Jahres, zwei Monate vor seinem Tod und bereits von schwerer Krankheit gezeichnet, doch noch von der geliebten Mutter - und zugleich von seinem heimlich doch auch geliebten Nürtingen - persönlich Abschied nehmen konnte, war für ihn ein großes Glück. Es ist vor allem Ingrid Dolde und dem Nürtinger Hölderlinverein zu verdanken. Als sich vor einigen Jahren eine Gedenkinitiative daran machte, die Gräber der auf dem alten Nürtinger Friedhof beerdigten ehemaligen NS-Zwangsarbeiter dem Vergessen zu entreißen, konnte auch das Grab von Erika Härtling lokalisiert werden. Dolde und ihre Mitstreiter setzten sich dafür ein, dass nun auch diese bedeutende Nürtinger Grabstätte wieder ein Teil der öffentlichen Erinnerungskultur geworden ist. Heute zieren ein junger Fliederbaum und zwei Gedenksteine das Grab. Auf dem einen ist Härtlings Gedicht über den alten Nürtinger Friedhof zu lesen. Auf einem zweiten, kleinen wird, so hatte es der am 10. Juli verstorbene Schriftsteller, der am heutigen Montag 84 Jahre alt geworden wäre, im Gespräch mit Ingrid Dolde noch selbst verfügt, nicht nur Erika Härtlings, sondern auch der „ungezählten Flüchtlingsfrauen zweier Jahrhunderte“ gedacht.