Marius Müller-Westernhagen gibt sich laut, knorrig, rau und authentisch. Foto: Torsten Rothe Quelle: Unbekannt

Von Ingo Weiß

Stuttgart - Die ganze Zeit sitzen? Für einen wie Marius Müller-Westernhagen, der einst die Hummeln im Hintern hatte, müsste das eigentlich die Höchststrafe sein. Früher benötigte er die große (Stadion-)Bühne so dringend wie Luft zum Atmen, weil sie ihm stets die Energie lieferte, um Besonderes zu leisten. Doch in der nahezu ausverkauften Stuttgarter Schleyerhalle turnt, welch ungewohntes Bild, kein wild gewordener „MMW“ mehr gestikulierend über die Bretter, sondern ein 68-jähriger, sichtlich alt gewordener Herr zelebriert aus dem Stuhl heraus sein Konzert - so genuss- wie wirkungsvoll, weil seine Musik auf diese Art ganz speziell leuchtet. 145 Minuten lang stellt sich die Frage, warum Westernhagen nicht schon viel früher auf dem berühmten Barhocker der „MTV Unplugged“-Reihe Platz genommen hat.

Zu Beginn lässt Westernhagen die 9000 Fans aber im Wortsinne im Dunkeln. Das Bühnenlicht ist stark gedimmt und „unplugged“ klingt irritierend anders als elektrisch verstärkt. Gegenüber dem originalen MTV-Konzert 2016 in Berlin hat er die Setliste leicht verändert und gibt mit „Geiler is schon“ die Richtung vor. Von drei Akustikgitarren begleitet nuschelt er die Countryballade mehr, als dass er sie singt. Auch später wird seine Stimme von den Instrumenten ab und an fast „verschluckt“. Auch mit dem zweiten Stück „Hass mich oder lieb mich“, eine Uralt-Nummer von 1980, will das Konzert nicht richtig in Schwung kommen, obwohl sich die halbrunde Bühne nach und nach füllt. Die bestuhlte Arena bleibt sitzen.

Fast mumienhafte Blässe

Doch beim Rock’n’Roller „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“ springt der Funke über. Die ersten Fans stehen und tanzen. Auch Westernhagen kann sich kaum halten. Gefühlvoll wird es bei „Luft um zu atmen“. Die Gänsehaut-Ballade präsentiert er an der Seite seiner fast halb so alten Frau Lindiwe Suttle, die das Original geschrieben hat. Marius steuerte den deutschen Text bei. Im Juli heiratete er die Tochter einer Südafrikanerin und eines Amerikaners und duettiert sich mit ihr noch zweimal: bei „Lass uns leben“ und „Durch deine Liebe“. Was durchaus liebevoll und kontrastreich anzuschauen ist, die Dunkelhäutige und der fast mumienhaft Blasse, ist musikalisch gewagt: Suttle schmettert Westernhagen mit ihrer ausgebildeten Stimme krachend an die Wand.

Was für ein Kontrast zum „dreckigen“ Bluesrock-Auftritt vor drei Jahren im Theaterhaus im Rahmen der „Alphatier“-Tour - und erst recht zu dem einstigen „wagnerianischen Helden“, der Konzerte wie heilige Messen zelebrierte. Wie 1995 auf dem Cannstatter Wasen. Hier und jetzt schafft der Düsseldorfer so etwas wie Wohnzimmeratmosphäre, mit Songs wie „Weil ich dich liebe“ oder „Liebe (um der Freiheit willen)“ gelingt ihm trotz der Hallendimension die Erzeugung von Intimität. Das Publikum lauscht fast andachtsvoll den großen Kompositionen der Vergangenheit, die zum Teil der Soundtrack ihres Lebens sind. Begeisterungsstürme halten sich - noch in Grenzen.

Passend dazu das reduzierte Bühnenbild: Zehn dekorativ-altmodische, schwach schimmernde Theater-Scheinwerfer auf der Bühne, mehr ist da nicht. Jedoch auch ohne Schnickschnack und ohne E-Gitarren klingen die Stücke überwiegend überragend. Egal ob das marschierende „Nur ein Traum“, das folkig angehauchte „Liebeswahn“, der Rocker „Willenlos“ oder „Rosen“, die Songs klingen in ihren neuen Arrangements meistens intensiver und sind zudem dramaturgisch hervorragend angeordnet. Zum richtigen Zeitpunkt wechseln sich schnellere und langsame Titel ab. Nahezu zweieinhalb Stunden spielen Westernhagen und seine 13-köpfige, grandiose Bluesrock-Band, die aus Briten und US-Amerikanern besteht und die wissen, wo das Bluegrass wächst. Westerngitarren mit Slide- und Bottleneck-Effekten, Fiddle, Klavier, Drums, Saxophon, Irish Whistle und dazu Backgroundgesang ergeben ein breites Klangspektrum mit zwar ungewohnter, aber überzeugender Ausstrahlung.

Westernhagen inmitten der Truppe ganz er selbst: laut, knorrig, rau und authentisch. Gekleidet in Westernhemd, rotes Halstuch, Jeans, Cowboystiefel und breitkrempigem Hut grummelt, krächzt, jault, röhrt und schreit er, dass es eine wahre Pracht ist. Als er das rotzige Gute-Laune-Stück „Es geht mir gut“ intoniert, glaubt man dem Clint Eastwood-Verschnitt das unbedingt. Auf den beiden Videoleinwänden sieht man in Nahaufnahme sein gelöst-entspanntes Gesicht und durch seine geschlossenen Augen hindurch seine innere, tiefe Euphorie. Er hat unglaublichen Spaß, seine Musik im neuen Gewand zu präsentieren. Man sieht aber auch eine Hagerkeit wie von Asketen auf mittelalterlichen Fresken und ist erschrocken. Der frühere Schauspieler nutzt „Unplugged“ zur sehr persönlichen Werkschau. Beim bluesgetränkten Ritt geht es durch 40 Jahre Karriere.

Tom Petty wäre eher angebracht

Von „Taximann“ über „Sexy“ (Der Dirty Old Man Westernhagen ist mittlerweile der im Lied besungene alte Mann selbst) bis zum düsteren „Alphatier“, bei dem Westernhagen zum ersten Mal steht. Begeisterung lösen insbesondere die großen Hymnen aus wie „Wieder hier“. Als erste Zugabe covert Westernhagen auf Deutsch und ziemlich windschief „Heroes“, eine Hommage an den verstorbenen Superstar David Bowie. Er erklärt das mit der MTV-Regel, mindestens einen Song aus fremder Feder anzustimmen. Zum einen verhebt sich Westernhagen an Bowies Hymne und zum anderen wäre ein Tom Petty-Stück angebrachter. Eine wirkliche Überraschung gelingt ihm mit „Unter meinem Fingernagel“ (1994), ein live höchst selten gespieltes Stück. Als letzte Zugabe gibt es seit ewigen Zeiten die berühmte Whisky-Hymne „Johnny W.“ Ganz intim mit drei Gitarren und auf drei Barhockern. Es ist die schönste Ballade des Konzerts.

Die Überwältigungshymne „Freiheit“, im Halbdunkel, im Stehen und nur vom Klavier unterlegt, beschließt nach langen Zugaberufen den Akustik-Abend mit dem großen, alten Mann des Deutsch-Rock-Blues. Eine Dekade hat Westernhagen den Song nicht gespielt, zu sehr schien er ihm verbunden mit der Wende 1989. Doch die Gegenwart ist düster, der US-Präsident selbstredend verrückt und Demokratie bekommt man nicht umsonst. Westernhagen ist in einem Alter, wo er die Freiheit besitzt, das zu tun und zu sagen, was er für richtig hält. An diesem Abend hat er fast alles richtig gemacht.