Gestörte Beziehungen: die Gräfin (Sarah-Jane Brandon, links), Susanna (Esther Dierkes) und Figaro (Michael Nagl). Foto: Martin Sigmund - Martin Sigmund

Die Regisseurin Christiane Pohle hat Mozarts „Hochzeit des Figaro“ unter die Gender-Lupe genommen. Das Ergebnis in der Stuttgarter Oper gleicht jedoch nur einem bebilderten Essay.

StuttgartDa eilt der Opera buffa „Le nozze di Figaro“ („Die Hochzeit des Figaro“) von Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo da Ponte der Ruf der Revolution voraus (und dem zugrunde liegenden Theaterstück von Beaumarchais sowieso). Weil ein geiler Bock von Graf, der auf seine angetraute Gemahlin keinen Bock mehr hat, der hübschen Susanna deflorierend unter den Rock will. Weshalb er deren Hochzeit mit seinem Diener Figaro nach Kräften hintertreibt. Soll heißen: Das vermeintlich Private war im späten 18. Jahrhundert so politisch wie im MeToo-Zeitalter. Verfügung über den eigenen Körper, freie Partnerwahl, aber exklusive Sexualität in der Ehe mit dem einen, einzigen und absolut individuellen geliebten Menschen: alles bürgerlich-revolutionär durchzusetzen gegen feudale Kuppelei und adlige (Schürzen-)Jagdinstinkte.

Bekanntlich mündete diese bürgerliche Sexualmoral in neue Repression, und deshalb meldet die Regisseurin Christiane Pohle in ihrer „Figaro“-Neuinszenierung in der Stuttgarter Oper Zweifel an, ob das emanzipatorische Potenzial der genialen Musikkomödie tatsächlich die Abgründe unter dem trickreich zu erkämpfenden Ehestand zuschüttet. Pohles genderzentrierte Ausgangsbehauptung – die Menschen werden nicht glücklich in den heteronormativen Gussformen verordneter sexueller Identitäten – greift auf den Opernschluss zurück: In der Verwechslungs- und Verkleidungsszene, einem irren, wirren Sommernachtstaumel labyrinthischen Begehrens, knistert mehr erotische Intensität als nach dem Platzen des Knotens. Wenn alle wieder „sie selbst“ sind und mit Mozarts beschleunigtem Allegro „zum Fest eilen“, klingt das wie auf der Flucht: vor sich selbst, vor den tabuisierten Anteilen ihrer Persönlichkeit, vor dem Geheimnis der Liebe, die nur überlebt, wenn sie das Fremde im Vertrauten hervorruft (um nichts anderes geht es in jener Verkleidungs-Séance).

Bilder kollektiver Einsamkeit

Pohle hat das Stück also zum einen gründlich durchgegendert und zum anderen kritisch gegen die umgekehrte Tendenz der gleichschaltenden Normierung ausgespielt. Und deshalb spielt das Ganze am Schauplatz der industriell vorfabrizierten Zweisamkeit, der in Zentimetern zu messenden Intimität, Privatsphäre, Partnerschaftlichkeit: bei IKEA in der Ehebetten-Abteilung. Bühnenbildnerin Natascha von Steiger hat vor Wellblechwand und Lieferantentor etliche mobile Betten-Zellen gestellt, quadratisch eingekastelt mit Rück- und einer Seitenwand samt Türen, rechts und vorne offen, gruppierbar zum wabenartigen Gefüge: Bilder kollektiver Einsamkeit derer, die jeweils darin eingeschlossen sind – gelegentlich via Skype-Bildschirm beäugt von dem sich mittels Fernbedienung ein- und ausblendenden Dirigenten Roland Kluttig als Big Brother.

In der Eingangsszene, wo schon bei Mozart und da Ponte gemessen wird, mutet die Möbelausstellung noch recht offen an, und die Regisseurin lässt auf Matratzen probefedern, in Schubladen linsen, unters Bett kriechen – als werde etwas gesucht. Wird es auch, nämlich die eigene Individualität: Durchs Stückpersonal, das hier zugange ist, spuken Doppelgänger, Ähnliche, Verwechselbare – wobei die kleinen Unterschiede, wie bei der Bettenkollektion selbst, nur die große Gleichmacherei tarnen, diese böse Parodie der Egalité.

Tja, die individuelle und sozial anerkannte Identität: Figaro hat eigentlich keine, er ist ein Findelkind. Pohle blendet auch das von Anfang an ein: Wir sehen einen Mann, der ein Etwas unterm Pulli birgt – kein Ladendieb, denn was er liebevoll an sich drückt, ist ein Ersatz-Baby. Ein Mann mit Mutterkomplex? Jedenfalls einer mit traumatischer Verlusterfahrung: der Rechtsverdreher Bartolo, der Figaro mit der alten Marcellina (wohltönend mit Giftdosis: Helene Schneiderman) verkuppeln will. Als sich im dritten Akt wundersamerweise herausstellt, dass Figaro der als Baby geraubte Sohn gerade dieser beiden ist, knuddelt Bartolo ein ausgestopftes Paradekissen. Psychologisch subtil, wie der weiche Kern herausgepult wird aus der harten Schale des juristischen Wüterichs, der stechenden Blicks und furchterregend mit der Nachttischlampe fuchtelnd seine Arie brüllt (Friedemann Röhlig mit lautem, aber etwas flackerndem und im Parlando tonschwachem Bass).

Und wir sehen ebenfalls gleich zu Beginn eine Frau, die als Mann gilt: Cherubino, der pubertierende Page, bei Mozart eine Hosenrolle, also eine Frau, die einen sehr jungen Mann spielt, der als Mädchen verkleidet wird; bei Pohle eine Frau, die eine Frau spielt, die sich als Mann bandagiert und plättet, der dann als Mädchen „entbunden“ wird. Den Damen gefällt der entkleidete Mann, der eine Frau ist, trotzdem oder gerade deshalb. Und den Gehörgängen erst recht: Diana Haller singt die Partie mit wunderbar drängendem, intensivem Mezzo. Die freien Verzierungen in ihrer zweiten Arie sind (auch stilistisch) großartig, das Brio ihrer ersten ebenso – und deren zurückgenommener, in leiser Emphase gedehnter Rezitativ-Schluss ist ein Gänsehautmoment: bestürzender Ausdruck innerer Einsamkeit, auch hier.

Und dann noch: der Klimawandel

Neben dem Gender-Diskurs bedenkt Pohle auch noch den Klimawandel. Wenn sich das IKEA-Tor öffnet, ist die Hölle los (so schon nach Figaros Militär-Arie im ersten Akt). Im dritten Akt scheint der hermetische Möbel-Tanker dann auf den Boden des steigenden Meeres abgesoffen zu sein. Zumindest hebt sich beim finalen Volksfest eine Riesenqualle über der Szene, danach singt Barbarina (erlesen klar, ergreifend schön: Claudia Muschio) auf leerer und tiefseeschwarzer Bühne ihre Kavatine von der verlorenen Nadel.

Beim Abarbeiten der Gegenwartsagenda hat Christiane Pohle viel Kluges investiert – aber als Inszenierung gleicht es einem bebilderten Essay. Was zu sagen wäre, wird nicht gespielt, sondern ans Bühnenbild, an Sara Kittelmanns Kostüme und an die Requisiten delegiert. Symbolhandlungen (etwa mit einer Damenstrumpfhose oder mit Susannas Brautschleier als Figaros Torerotuch, mit dem er dem Grafen an die Hörner will) müssen charakteristische Realaktion ersetzen, die Personenführung gleicht in der Tat dem Zusammenschrauben von IKEA-Bausätzen: mit viel Standspiel, einiger Behäbigkeit und bloßer Platzierungsgeometrie, verbunden durchs türenschlagende Komödienklischee. Apropos: Wenn schon IKEA – die auf den Kauf folgenden zwischenmenschlichen Heimwerkertragödien samt ihrem komischen Potenzial bleiben leider ausgespart. Auch wenn der Graf der verschlossenen Tür bei seiner Gemahlin mit dem Akkuschrauber zuleibe rückt – ein Graf, dem Johannes Kammler zwar differenziertes, da autoritäres wie expressiv geschmeidiges Stimmrecht gibt, der im Schlafanzug oder in grauer Haustyrannen-Weste aber wie ein Lachmann im MeToo-Täterpelz wirkt. Sarah-Jane Brandon als Gräfin macht plausiblere Figur, singt aber viel schwächer: tremolierend, bisweilen zu tief, das „Briefduett“ mit einem Aussetzer fast schmeißend. Die Susanna der Esther Dierkes rettet auch die musikalische Situation, glänzt mit edlen Linien, vereint Wärme und kristalline Anmut. Da fällt es Michael Nagl schon schwerer, seinem Figaro neben der Agilität auch die stimmliche Dynamik zu verleihen: Er spielt, er jongliert nicht mit seinem Bariton, es klingt zu wenig elastisch, zu einfarbig. Heinz Göhrig schließlich als intriganter Basilio, hier ein Heim-Trainer: sängerisch passabel, spielerisch überragend – ein Bild des lachkrampfgeschüttelten Zynikers als kaputte Existenz.

Dass Roland Kluttig wie mit dem Zollstock dirigiert, passt ins (Inszenierungs-)Bild: Neben trefflich artikulierten Staccati (gleich in der Ouvertüre) gibt es dumpfe Akzente, fein Ausformuliertes neben vor sich hin Plätscherndem (Beispiel: die nach oben federnden Schleiferfiguren im Zicken-Duettino Susannas und Marcellinas bleiben unterpointiert). Es ist dies ein akkurat in Gang gesetzter Mozart – mit begrenztem Charme und ohne Vorhall von Bastille-Stürmen.

Zuguterletzt aber gelingt Regisseurin Pohle ein Bild von utopischer Poesie: Die Figuren – zuvor als Projektionen ihrer selbst ins Offene, ins Freie schauend – blicken ihren Doppelgängern in die Augen, umarmen sie gar. Illustriert wird Rimbauds Satz „Ich bin ein anderer“ als Befreiung vom Identitätszwang. Die Liebe – auch zu sich selbst – braucht das Andere. Mit der Rückkehr der normierten Normalität verschwinden die Doubles. Und es setzt Buhs für die Regisseurin.

Die nächsten Vorstellungen: 4., 6., 19. und 21. Dezember, 7., 13., 17. und 28. März, 14. April.