Zweisam einsam: Barbara Dussler als Daisy und Oliver Moumouris als Behringer. Foto: Patrick Pfeiffer - Patrick Pfeiffer

Markus Bartl gelingt eine starke Inszenierung von Eugène Ionescos „Die Nashörner“ an der Esslinger Landesbühne.

EsslingenDa steht er nun in unparadiesischer Nacktheit: nicht der erste, sondern der letzte Mensch. Nicht A wie Adam, sondern B wie Behringer. Reduziert auf seine bloße Existenz, ausgestellt in einer körpergroßen Museumsvitrine. Letztere steht nicht in Eugène Ionescos Drama „Die Nashörner“. Dort wuchtet der letzte Mensch mit seinen letzten Worten ein tapferes Versprechen in die Zukunft: „Ich kapituliere nicht!“ – was auch immer daraus folgt. In Markus Bartls Inszenierung an der Esslinger Landesbühne erübrigt sich das Versprechen. Behringer hat schon verloren, bevor er überhaupt kapitulieren könnte. Nur noch ein Exponat ist er, eine präparierte Erinnerung an die vergangene Menschheit, angegafft von – menschlichen Wesen, einer noblen Sozietät in dunkler Abendgarderobe, der nur eines zur Menschlichkeit fehlt: die Sprache. Die erst schleichende, dann galoppierende Verwandlung der humanen Spezies (außer Behringer) in metaphorische „Nashörner“, von der Ionescos Stück handelt, nimmt Regisseur Bartl eben tatsächlich als Metapher für eine unsichtbare, aber fundamentale Wesensveränderung – ganz ohne zoologische Maskerade. Wenn daher die „Nashörner“ am Ende Anzug und langes Schwarzes tragen, birgt sich im Bild vornehmster äußerlicher Kultiviertheit, bar allen Panzertier-Furors, nichts anderes als die totale, uniforme, sprach- und verständigungslose Macht, die die Entmenschten ergriffen haben.

In Reih’ und Glied

Dem stellt Bartl in kluger Kontrapunktik ganz zu Beginn eine menschlich-allzumenschliche Gesellschaftsparodie gegenüber. Vor Philipp Kiefers Bühnenbild – einer weiten Freitreppe mit Tür inmitten, denkbarer Schauplatz von Urdemokratie, aber auch Symbol sozialer Staffelung – formiert sich das Figurenensemble zwar in Reih’ und Glied an der Bühnenrampe des Esslinger Schauspielhauses, bereit für den hereinbrechenden Nashorn-Konformismus. Dennoch ist’s eine buntscheckige Versammlung munter quasselnder Individuen: vom pseudointellektuellen Logiker mit seinen wirren Folgerungen über den alten Herrn mit abgewandtem Blick und lauschendem Ohr bis zur sentimentalen Katzenmama, vom Behringer-Freund Hans, einem nörgelnden Moralapostel, bis zum hier noch eingereihten Behringer selbst, recht abgerissen mit heraushängendem Hemd, elektrostatischer Frisur und alkoholsüchtiger Gurgel. Dass nur Daisy, Objekt allgemeiner und besonders der Behringer’schen Begierde, aus der Reihe tanzt, weist auf die noch anders ausgerichteten (Männer-)Kollektivträume: Mit roter Sozialistenrose in der Hand und weißer Blüte im Haar erscheint sie als Ikone von Liebe und Freiheit.

Was dann in Ionescos Stück von 1959 geschieht, muss wahrlich nicht aktualisiert werden, denn die Gegenwart serviert die Aktualität dem alten Stück hinterher: Die Verwandlung von einem, zwei, vielen, (fast) allen in „Nashörner“, der Weg vom „Wir sind wer“- zum „Wir sind mehr“-Kollektivrausch, im tierischen Sinnbild zu verstehen als herdengetriebener Konformismus, als Preisgabe zivilisatorischen Niveaus und aufgeklärter Verständigung an die pure Gewalt, spiegelt beileibe nicht den ersten gesellschaftlich-politischen Rückfall solcher Art. Nur hört das neue alte Ungeheuer jetzt auf den Namen Populismus. Gerade deshalb muss man die „Nashörner“ nicht Pegida und Chemnitz und AfD (oder Brexit, Orbán, Salvini oder weiß der Teufel was) wiederkäuen lassen. Bartl weiß, dass aufgeklebte Etikette die Erkenntnis im Hirn des Zuschauers schwächen. Also verzichtet er darauf.

Wenn in seiner Inszenierung Nashörner durch die Stadt trampeln, hört man Geräusche aus dem Off, Bühnenqualm steigt auf – und es regnet Papierschnipsel: deutbar als Hinweis auf Akten- und Datenvernichtung, auf ein Einverständnis der Bürokratie und der Oberstübchen der politischen Hierarchie mit den umwälzenden Verheerungen. Deutlicher als bei Ionesco erscheinen sie nicht als Fatalität, sondern als Machenschaften der Macht – womit sich der Bogen ins Inszenierungsfinale schließt. Davor aber setzt es locker angetupften Bürokratie-Slapstick: mit einem klugscheißenden Wisser (Ulf Deutscher als grau melierter Angeber-Schnösel), der die Nashornitis wahlweise als Einbildung oder als erklärbar abtut (freilich ohne die Erklärung zu liefern); mit einem seine Leidenschaft (für Daisy) hinter Papiertrockenheit verbergenden Stech (Ralph Hönicke); mit einem grapschenden Chef (Achim Hall), der die widerstrebende Büroschöne auf die MeToo-Karriereleiter drängt; und mit einer hereinplatzenden Frau Ochs (prächtig außer sich: Gesine Hannemann), die von der Verwandlung des Gemahls kündet, dem sie aus ehelichem Pflichtgefühl prompt auf den gepanzerten Rücken springen wird.

Aus Komödie wird Tragödie

Wie sich aus der Komödie die Tragödie herausschält, wie Gleichgültigkeit, Hochnäsigkeit, Abtun ins Lächerliche dem Sog des Massenwahns weichen, wie der Refrain-Satz „Er ist Nashorn geworden“ von schulterzuckender Kenntnisnahme in zunehmende Faszination durch eine absurde, doch umso unüberwindlichere Macht übergeht: Das bezeugt, mit all seiner beklemmenden Intensität, die Kraft des Texts – und die hohe Kunst der Inszenierung. Sie äußert sich auch in einer bruchlosen Vertaktung der Sprechakte, einer perfekten Phrasierung des meist hohen Sprechtempos, die der wortreichen Rhetorik des (vertretbar gekürzten) französichen Originals nahesteht. Und sie kann sich auf ein ausnahmslos exzellentes Ensemble stützen. Die Verwandlung des Hans auf offener Bühne etwa spielt Reinhold Ohngemach lediglich durch Registerwechsel von der normalen Stimme in raunzenden Wutbürger-Ton: ein Bravourstück. Und wenn sich Ralph Hönickes Stech am Unterarm kratzt, genügt die Andeutung für die Absehbarkeit der Folgen.

Eine geradezu kafkaeske Groteske als altes, egomanes Spießerpaar gelingt Florian Stamm und Nina Mohr. Devise: erst weggucken, dann mitmachen. Als Verwechslungspointe von Sein und Schein gibt Mohr obendrein das einzige sichtbare „Nashorn“: einen längst nicht mehr rettenden Feuerwehrmann – mit Gasmaske.

Wie die politische Menschheitskatastrophe schließlich noch die zwischenmenschliche Intimität zerstört: Das stellen Oliver Moumouris als Behringer und Barbara Dussler als Daisy in großartiger Kenntlichkeit dar. Er ein Reifender und Zweifelnder, sie eine Frau, die nicht mehr wider den kollektiven Stachel löcken kann, die nur leben (oder überleben) will. Zweisam einsam keimt zwischen den einst Verständigen pures Unverständnis, „25 Jahre Ehe in ein paar Minuten“, frotzelt er in bitterster Ironie. Aber politischer war das Private nie. Es ist etwas im Gange, und es geht uns an. Auch ganz privat. Jetzt. Hier. So die Botschaft dieser starken, stark applaudierten Inszenierung.

Die nächsten Vorstellungen: 26. September, 16. und 26. Oktober.