Internationale Schülerschar: Die Eleven der John-Cranko-Schule präsentieren sich. Foto: Stuttgarter Ballett - Stuttgarter Ballett

Der 61-jährige Ballettpädagoge Tadeusz Matacz spricht im Interview über den Neubau der Cranko-Schule und die Chancen, die er bietet.

StuttgartAuf seinem Tisch liegt ein grüner Schutzhelm. Tadeusz Matacz ist in den vergangenen Jahren zum Fachmann für Hochbau geworden. Am 1. Dezember 1998 trat der heute 61-Jährige seinen Dienst als Direktor der Stuttgarter John-Cranko-Schule an, die unter seiner Leitung zu einer der renommiertesten Ballettakademien der Welt wurde und im Lauf der Jahre viele, viele hervorragende Tänzer in die Welt schickte, nicht nur zum Stuttgarter Ballett. Im Sommer 2019 ziehen Matacz, seine Dozenten und seine Schüler in die neu erbaute Schule in der Werastraße über der Staatsgalerie.

Herr Matacz, die neue Schule ist fast fertig. Wie läuft Ihre Baustelle?
Wir haben gerade mit dem Innenausbau angefangen, vergangene Woche haben wir die neuen Spiegel begutachtet. Es sind zehn Stockwerke, das Gebäude ist 120 Meter lang – das ist schon riesig. Das ist einmalig für Deutschland, alle Kollegen sind sehr neidisch. Die Ballettsäle sind wirklich herrlich! Wir haben vier kleine Säle und vier große Säle, das ist optimal.

Werden Sie mit der gleichen Mannschaft weitermachen wie bisher oder bekommen Sie neue Stellen? Das Gebäude ist ja nun viel größer.
Jetzt haben wir 30 Kinder im Internat, in Zukunft haben wir Platz für bis zu 80 Kinder. Da brauchen wir entsprechend Betreuer. Die Notwendigkeiten sind definiert, wir arbeiten auch schon am Dienstplan für die Haustechniker. Der damalige Ballettintendant Reid Anderson hat lange mit den Politikern gekämpft, um das alles so zu ermöglichen. Wir waren von Anfang an mit Sparnotwendigkeiten konfrontiert. Am Ende ist es mir gelungen, die Größe der Ballettsäle zu retten, alles andere ist geschrumpft. Unsere Büros sind kleiner als hier, die Flure sind enger geworden. Aber es wird es trotzdem toll – mein Frust ist falsch hier, aber es könnte besser sein. Auch der Kampf um dieses Gelände neben der Schule…

Die Stadt will dort einen Weg bauen, aber Sie haben die Pflicht, Ihre jungen Schüler vor zu neugierigen Blicken zu schützen.
Diese Nähe ist einfach viel zu gefährlich. Wir können nicht ständig wie die Affen in der Wilhelma auf dem Präsentierteller sitzen. Wir wollen uns unbedingt öffnen und uns der Stuttgarter Bevölkerung in Aufführungen präsentieren, aber nicht mit dieser Aussichtsplattform, die dort geplant ist.

Werden Sie sofort alle 80 neuen Plätze füllen?
Ich rechne nicht mit einer sprunghaften Erhöhung der Schülerzahl. Mag sein, dass mit der neuen Schule eine Flut von Leuten kommt, aber mein Auftrag war von Anfang an die Qualität und nicht die Quantität, das hat nie jemand in Frage gestellt. Einmal hat der frühere Staatstheater-Geschäftsführer Hans Tränkle gefragt: Meinen Sie nicht, dass wir so viele Asiaten haben? Ich sagte: Wenn ich nach der Probe fertig bin und gehe, dann schaue ich hinter mich, was da so passiert. Alle Europäer gehen mit mir weg, aber die Asiaten bleiben und üben weiter. Ich brauche die als Beispiel! Asiaten und Amerikaner sind vorbildliche Nationen, was den gesunden Konkurrenzkampf betrifft. Hier in Europa sind die Leute satt und verspielt. Deshalb unsere Internationalität! Und es ist ein Riesenkampf heutzutage, überhaupt Schüler zu finden. Die Kinder können nicht mehr laufen, die haben Deformationen an den Füßen. Kein Kind spielt mehr draußen, die sitzen nur und bewegen sich nicht. Wenn man immer nur chauffiert wird... Mental hängen die Kinder total durch, die Gesellschaft hat sich gewandelt. Wenn wir dieses tolle Gebäude bekommen, dann müssen wir viel offensiver etwas für die Kinder aus Baden-Württemberg organisieren und Talente suchen. Dann haben wir die Räume dafür und sind ein Anziehungspunkt. Den Körper als Instrument zu benutzen, alleine mit dem Körper auf die Musik zu reagieren, das ist so schwierig, und viele Deutsche können es nicht. Die Übungen zu wiederholen, seinen Körper endlos zu züchtigen, da fehlt einfach der Biss und der Wille.

Sie kommen gerade vom Youth America Grand Prix, einem großen Wettbewerb für Tanzschüler, wo Gabriel Figueredo aus Ihrer Abschlussklasse den ersten Preis gewonnen hat.
Jetzt ist es Zeit, dieses Jahrhunderttalent den Leuten zu zeigen. Ich habe ein Foto aus der Zeit, als ich ihn zum ersten Mal in Brasilien gesehen habe – neben mir sitzen die Akademieleiter aus Monte-Carlo und Zürich, und uns allen drei steht der Mund offen. Natürlich ist er technisch toll, aber es ist einfach schön, ihm zuzuschauen. Er geht nicht, das ist wie ein Engel, der fliegt. Als Verantwortlicher darf man so eine unglaubliche Begabung ja nicht überfordern.

Hat sich durch die MeToo-Debatte an Ihrer konkreten Arbeit etwas geändert? In den USA dürfen die Lehrer die Schüler nicht mehr anfassen, wie machen Sie das?
Das ist natürlich ein sensibles Thema. Ich erinnere mich an meinen Physiklehrer in Polen, der fragte mich mal: Wie ist das, wenn Du ein Mädchen hochhebst, empfindest Du gar nichts? Du hast doch die Hände hier an ihrem Körper. Ja, und ich denke, ob ich sie heil wieder runterkriege. Ich habe nur diesen einen Gedanken! Die Leute ticken schon sehr komisch manchmal. In unserem Beruf ist diese Person, die hier vor Ihnen sitzt, dafür verantwortlich, dass alles gut läuft. Ich muss sehen, ob die Lehrer an unserer Schule jemand mit Hintergedanken anfassen oder ob es auf die Arbeit ausgerichtet ist. Ich bin lange genug in meinem Geschäft, ich erkenne die Perversen, ich erkenne die Alkoholiker, ich kenne die Künstler, die Netten und die Faulen, vor uns kann man nichts kaschieren. Wenn ich mit den Leuten einverstanden bin, dann ist die Schule okay. Falls ich durchdrehe, dann müssen meine Vorgesetzten das sehen, und dann muss etwas passieren. Und ich muss den Eltern natürlich sagen, dass ihre Kinder beim Üben angefasst werden.

Sie sind nun 20 Jahre in Stuttgart. Erinnern Sie sich, wie Ballettintendant Reid Anderson Sie damals angesprochen hat?
Das waren interessante, turbulente Zeiten! Man hat damals mein Engagement als Beweis für die Unfähigkeit Reid Andersons genommen. Dabei hatte ich überhaupt nichts zu tun mit den Stuttgarter Konstellationen und der Geschichte. Ich kam komplett neu ins Spiel und habe einfach meine Arbeit getan. Reid Anderson hatte vollkommenes Vertrauen und gab mir Carte blanche. Ich konnte machen, was ich für richtig hielt, die ganze Zeit. So ein Chef ist wirklich ein Glücksfall – gerade im Theater, wo es so viel Neid gibt. Ich kenne Beispiele auf der Welt, wo die Ballettschule zu offensichtlichen Erfolg neben der Kompanie hat, dann wird sofort der Chef hinausgekickt.

Läuft denn die Zusammenarbeit mit Andersons Nachfolger Tamas Detrich so weiter? Lässt er Ihnen auch Freiheit?
Wir haben gerade erst angefangen. Als ich kam, war Tamas noch Tänzer. Jetzt ist unser Verhältnis vorbildlich, er weiß, auf was er sich mit mir einlassen kann und umgekehrt.

Sie gehören zu den dienstältesten Ballettakademie-Leitern weltweit, stimmt das?
Ja, nur Mavis Staines in der Nationalen Ballettschule Kanadas ist länger da. Ich erinnere mich an die Münchner Schulleiterin Konstanze Vernon, die hat einmal gesagt: Ich beneide Sie, Sie sind 20 Jahre jünger und haben mehr Kraft! In so einem Moment denkt man nach. Ich fühle mich nicht alt oder verbraucht, überhaupt nicht, aber das ist leider die Konsequenz: Irgendwann mal ist Schluss. Man muss nur den Schluss richtig erwischen.

Das Interview führte Angela Reinhardt.

Tadeusz Matacz wurde 1957 in Warschau geboren. Seine Ausbildung als Tänzer und Tanzpädagoge absolvierte er an der Staatlichen Ballettakademie in seiner Heimatstadt. Ab 1977 war er als Tänzer am Warschauer Großen Theater engagiert, gleichzeitig arbeitete er als Lehrer an der Ballettschule in Warschau. 1984 wechselte er als Solist ans Badische Staatstheater in Karlsruhe, von 1992 bis 1998 war er dort als Ballettmeister und Choreograf tätig. Zwischen 1990 und 1998 unterrichtete er als Gastdozent auch bei den Ballettensembles in Frankfurt, Toulouse, Warschau und Stuttgart.

Seit Dezember 1998 leitet Tadeusz Matacz als Direktor die Stuttgarter John-Cranko-Schule. Außerdem ist er Juror bei zahlreichen renommierten Ballettwettbewerben.