Pathetisch und pompös: Udo Lindenberg in der Schleyer-Halle. Foto: Rothe Quelle: Unbekannt

Unter Dach kommt sein exzellentes, spielfreudiges Panikorchester deutlich mehr und besser zur Geltung. Lindenberg macht den Job fulminant, obwohl seine Stimme am Anfang und am Ende leicht im Keller gurgelt.

Von Ingo Weiß

Stuttgart - Er hatte es, „Ich schwöre“, geschworen: Bald sieht man sich wieder. Auf den Tag fast genau ein Jahr nach seiner pompösen Open-Air-Revue im Mercedes-Benz-Stadion trällerte die Rock-Nachtigall Udo Lindenberg tatsächlich erneut in Stuttgart, diesmal in der Schleyer-Halle. Und wie schon vor Jahresfrist kamen die Fans auch dieses Mal aus dem Staunen nicht heraus. 71 Jahre jung ist Lindenberg seit knapp einer Woche, aber nicht nur seiner deutschen Nachkommenschaft zeigt er, wo konzertant der Hammer hängt. Das Gastspiel ist die Fortsetzung einer unglaublichen Erfolgsstory - Ende: offen.

Die Liebe, die er von seinen Fans mittlerweile empfängt, geben er und seine Panik-Familie mannigfaltig zurück. In Form von „Udopium“, das der gebürtige Gronauer unters Volk streut. Und je schlimmer die kapitalistischen Verhältnisse, desto mehr Udopium - ganz im Sinne der Marxistischen Kapitalismuskritik - muss in den Venen der Fans zirkulieren. Und die Verhältnisse sind schlimm und ungezügelt. Das wütende Stück „Sie brauchen keinen Führer“ von 1984 scheint wieder bedrückend aktuell. Genauso wie der Antikriegssong „Wozu sind Kriege da?“ von 1981 samt einstiger Kinderstimme Pascal Kravetz. Wie lange noch, fragt der Panik-Pate fast schon resignierend, müsse er solche Songs noch singen? Ansonsten aber ist der ganz persönliche Kosmos des Wahl-Hamburgers, der längst zu einer Marke mutiert ist, mehr denn je bunt, groß und republikanisch. Er selbst ist manisch optimistisch und stark - „stärker als die Zeit“, wie er das Konzert in Anlehnung an sein gleichnamiges Album von 2016 überschrieben hat. Wie schon im Stadion, so ist es auch in der ausverkauften Schleyer-Halle ein kunterbunter Abend mit alten Freunden und vielen Überraschungen. Wobei sich die Überraschungen für diejenigen stark in Grenzen halten, die ihn vergangenes Jahr live erlebt haben. Denn in weiten Teilen sind es nahezu identische und bombastische Wiederholungen von bereits Erlebtem: Fliegende, neongrüne Untertassen, Außerirdische, Promis wie Freundeskreis-Mitglied Max Herre und das „Mädchen aus Ostberlin“ Josephine Busch im blauen FDJ-Hemdchen sowie eine riesige, bühnenbreite Video-Wall kennt man bereits. Das mindert bei vielen die Aha-Effekte und drückt auf die Stimmung, die im Stadion an vielen Stellen besser war.

Dafür lässt „Panikpräsident“ Lindenberg audiell eine Wucht vom Stapel, die an sein Gastspiel 2012 an selber Stelle erinnert und seinen Stadionauftritt akustisch in den Schatten stellt. Unter Dach kommt sein exzellentes, spielfreudiges Panikorchester deutlich mehr und besser zur Geltung als im Töne verlierenden Stadionrund. Noch lauter, härter und druckvoller spielt die Band, mitreißend auf den Punkt, inklusive der schrillen Gitarristin Carola Kretschmer. Dazu gesellen sich Pustefix-Bläser, Sängerinnen und Sänger, Tänzerinnen, Akrobatinnen und die „Kids on Stage“. Lindenberg leistet sich einen schier unerschöpflichen Personaleinsatz. Eigentlich wäre das mehr als faszinierend. Aber stellenweise werden die Reize überflutet, ist manches, auch im Zusammenspiel mit der lichttechnischen Opulenz, schlichtweg „too much“, bei aller Fulminanz der Panikparty. Inmitten des grellen Kaleidoskops der Oberlindianer als zu gleichen Teilen Diener und Dompteur im Rock´n Roll Zirkus. Von Beginn an ist der coole Lindenberg unterwürfig und beherrschend zugleich. Mit Leidenschaft und purer Lebenslust wirbelt er auf der Bühne wie auf dem vorgelagerten Laufsteg-Landeplatz umher.

Ein Chor aus 12 500 Stimmen begleitet ihn, als er zu den heavy rockigen Takten von „Odyssee“ wie aus dem Rockstar-Himmel auf die Bühne herabschwebt. Mit Fackeln einweisende Sirenen im hautengen Lederdress erwarten ihn schon sehnsüchtig. Denn einer muss den Job in den folgenden 140 Minuten ja machen. Lindenberg macht den Job letztlich fulminant, obwohl seine Stimme am Anfang und am Ende leicht im Keller gurgelt. Seine Liebe zur Panik ist riesengroß. Er macht „sein Ding“, ohne jeden „Plan B“, „Gegen die Strömung“ und natürlich „Bis ans Ende der Welt“. Neue Songs und Klassiker sind gemischt und auch hier: fast die identische Setliste wie vor Jahresfrist. Deshalb hätte er Lieder wie „Nimm Dir das Leben“ ruhig weglassen können. Trotzdem reüssiert die rasant servierte Mixtur aus bewegend introspektiven Balladen, unprätentiösen Liebesliedern und knackigen Rocksongs. Auch wenn das Konzert mit zunehmender Dauer sich zum gefeierten Ritual entwickelt, so bleiben Lindenbergs Reisen in die gesellschaftlichen Blutbahnen und ins menschliche Herz. Ein wunderschönes Lied über wahre Freundschaft wie „Durch die schweren Zeiten“ ist genauso anrührend wie die Smartphone-illuminierte „Sternenreise“. Denen stellt er energetisch aufbrechende Songs wie die Glücksballade „Eldorado“ gegenüber. Lindenberg geht dahin, wohin kein anderer sich traut. Am Ende findet er bei allem Dauerlauf und inmitten seiner Liegendschaften sogar seine wehmütig besungene Cellistin, die es, auf einem Stahlträger hockend und sich wild gebärdend, sogar in dreifacher Ausfertigung gibt.

Pathetisch und pompös rockt die Show, toll dazu die Blicke heischenden Videos. Zum regulären Finale mit der „Honky Tonky Show“ entfacht das Konzert sein gesamtes Eskalations-Potenzial. Ein Schlauchboot schippert durch die Menge, Gold-Konfetti wird daraus händisch geschöpft und auch auf der Bühne ist kein Durchkommen mehr zwischen russischen Ballerinas und kostümierten Krankenschwestern. Getoppt wird das farbenprächtige Jahrmarkt-Karussell im Zugabenteil nur noch von „Candy Jane“ und „Reeperbahn“. Knallig, effekthaschend und überbordend werden die beiden Songs zelebriert. Die Schleyer-Halle ist in diesen Momenten eine „geile Meile“, bevor die Flutung von Augen und Ohren langsam versiegt.

Mit Hut und Sonnenbrille kam er auf die Bühne eingeschwebt. Nach nicht ganz zweieinhalb Stunden extraordinärer und kurzweiliger Bühnenshow mit 29 Songs nonstop, perfekt durchchoreografiert, entschwebt er im weißen Astronautenanzug in derselben Gondel, bevor ihn eine auf der Videowand wartende Rakete unter heftigsten Vibrationen und Rauch- und Feuer-Eruptionen in ferne Galaxien schießt.