Von Verena Großkreutz

Ludwigsburg - Igor Levit packt sie alle! Erst nach fast drei Stunden ist sein Konzert im Ordenssaal des Ludwigsburger Schlosses vorbei: Da liegen sämtliche 24 Präludien und Fugen für Klavier von Dmitri Schostakowitsch hinter ihm: Ein riesiger Kosmos an Ausdruckscharakteren und Satztechniken. Ein unendlich weiter Spannungsbogen, der mit einem kleinräumigen, verinnerlichten C-Dur-Präludium beginnt und einer martialisch auftrumpfenden d-Moll-Doppelfuge endet. Drei Stunden, die den gesamten harmonischen Kosmos aller 24 Dur- und Moll-Tonarten durchleben und durchleiden. Das Publikum folgt dem russisch-deutschen Pianisten aufmerksam.

Keine Sekunde ist langweilig. Immer zieht Levit die Ohren in den Klangsog, sucht mit so liebevollem wie lupenreinem Blick jede emotionale Nuance, lässt aber nie die Form, das Mit- und Gegeneinander der Stimmen aus den Augen. Er nutzt das ganze farbliche Spektrum des Flügels, das nur Pianisten seines Ranges zu nutzen überhaupt fähig sind. Bleibt immer klar in der Artikulation - es sei denn, es sollen impressionistisch schwebende oder fließende Klänge sein.

Es geht um Leben und Tod

Schön, wie Levit plötzliche dissonante Eintrübungen als Überraschungsmoment ausspielt, Stockungen pointiert als Staunen deutet. Es geht hier um das Leben und auch um den Tod. Das macht Levit durchweg deutlich. Schostakowitsch hat den Zyklus 1950/51 in Stalin-Zeiten geschrieben. Angeregt durch Bachs „Wohltemperiertes Klavier“ komponierte er aber Charakterstücke mit einem weiten Ausdrucksspektrum. Manchmal klingt der Bach’sche Fugenduktus durch, aber meistens sind die Fugenthemen nicht funktional erfunden, sondern melodisch. Das gibt ihnen emotionale Kraft. Und das vielstimmige Prinzip der Fugentechnik wird zur Aussage menschlichen Miteinanders: Wenn zwei Stimmen sich ergänzen und umspielen, dann ist das die Liebe. Wenn in der großen Schlussfuge das sanftere erste Thema vom zweiten fließenden Gedanken in den Sog bruitistischer Klänge gezogen wird, dann ist von Gewalt die Rede.

Diesen Riesenklangkosmos als Ganzes und unmittelbar wirken zu lassen, ist eine Pioniertat Igor Levits. Aber nicht nur deshalb bleibt dieser Klavierabend in Erinnerung. Es ist die ungeheure Energie, die Levit auf dem Podium entfaltet. Keine Frage: Der Mann wird immer noch ein bisschen besser.