Peter Handke Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Harry Schmidt

Marbach - Pünktlich um halb acht geht das Licht aus, der Humboldt-Saal verwandelt sich in eine dämmrige Höhle. Es passiert: erstmal nichts. Dann flutet eineinhalb Sekunden lang gleißende Helligkeit das Auditorium: Rund 250 Besucher haben sich im Deutschen Literaturarchiv (DLA) eingefunden, um im Rahmen der Reihe „Zeitkapsel“ dem österreichischen Schriftsteller Peter Handke zu begegnen. „Wait and see!“ ist diese 48. Ausgabe des Literaturveranstaltungsformats „Zeitkapsel“ überschrieben - eine Blitzlichtschnappschussaufnahme, die als Preview in der Gegenwart bereits einen Blick auf etwas gestattet, das erst in Zukunft genauer zu erkunden sein wird. In diesem Fall handelt es sich um 151 Notizbücher des bekannten Literaten, der in den Sechzigern zunächst mit Sprechstücken wie „Publikumsbeschimpfung“, „Kaspar“ und „Selbstbezichtigung“ Sand ins Getriebe des deutschen Nachkriegstheaters schippte, um später in Büchern wie dem 1987 von Wim Wenders verfilmten „Der Himmel über Berlin“ oder „Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten“ (1994) zu einer spezifischen, Introspektive mit minutiöser Welthaltigkeit verbindenden Erzählhaltung zu finden.

Bereits 2008 hatte Handke dem DLA 66 seiner Notizbücher überlassen. Dem liegt eine Form der Arbeitsteilung zugrunde: Das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien sammelt Handkes Werkmanuskripte, während Marbach die Notizbücher erhält. Anlässlich der jüngsten Auflage dieses „ephemeren Ausstellungskonzepts der Operation am offenen Karton“, so DLA-Direktor Ulrich Raulff in seiner Begrüßung, ist die nun übergebene „neue Tranche“ aus den Jahren 1990 bis 2015 als Faltengebirge von kleinen Notizbüchern auf dem Flügel aufgebaut. Kaum ein Umschlag gleicht dem anderen.

„Wait and see!“

Kurz sieht man auch, dass Handke und sein Gesprächspartner Ulrich von Bülow, als Leiter der Abteilung Archiv, Erwerbung und Bestandsbetreuung am DLA ein profunder Kenner der Schreibprozesse des 1942 in Kärnten geborenen Autors, bereits ihre Plätze auf dem Podium eingenommen haben. In der ersten Reihe sitzt Sophie Semin, die französische Schauspielerin, mit der Handke eine Tochter hat. Dann wird es wieder dunkel. Einzige Lichtquelle bleibt der Diaprojektor - in gut lesbarer Schreibschrift steht an die Wand geschrieben: „Wait and see!

Was so als Zufallsperformance begann, entwickelte sich zum lebendigen Gespräch. Anhand vieler Lichtbilder von Autografen aus den neuen Notizbüchern erfuhr man von Vorlieben und Abneigungen des charismatischen Autors („Ich nehm‘, was kommt - sogar ein Moleskine, wenn gar nichts anderes da ist“), der Bedeutung der Abkürzung „u.S.“ („unwillkürliches Selbstgespräch“) und dem Verhältnis dieser Notizbücher zu Handkes Romanen, Erzählungen und Stücken - nämlich als eine vom Werk unterschiedene Kategorie. In manchen stecken Federn, Blüten, Zeitungsausrisse. Tagebücher im engeren Sinn seien sie jedoch nicht, Persönliches darin zu notieren, würde ihm nie einfallen. Gleichwohl finden sich viele Einträge mit akribischen Zeit- und Ortsangaben datiert. Es gehe durchaus darum, einen konkreten Augenblick, Gedanken, Einfall gleich einer Sternschnuppe „einzufangen“. Ein „schönes Durcheinander“ von Natur- und Selbstbeobachtungen, Aphorismen, Miniaturen, Zitaten, Litaneien von Ortsnamen, Vokabellisten, auch in Fremdsprachen, darunter Französisch, Spanisch, Latein, Griechisch und Arabisch, dazu Korrekturen und Einfügungen zu aktuellen Projekten, die ihm beim Spazierengehen einfallen, wenn das Manuskript der aktuellen Produktion in ihm weiterarbeitet - poetologische Momentaufnahmen aller Art enthalten diese Notizbücher.

Der Literat als begabter Zeichner

Liest man darin, reist man gewissermaßen in der linken Hosentasche des Autors. Darüber hinaus lernt man in ihnen zuweilen auch den begabten Zeichner Handke kennen. Fast 90 Minuten lang plauderte der leidenschaftliche Pilzsammler aus dem Nähkästchen des Schriftstellers, bevor er sich mit den Worten, dass „für heute die Grenzen des Mündlichen erreicht“ seien, wieder in das Schneckenhaus seines Elfenbeinturms zurückzog: selbst für Marbacher Verhältnisse - war Handke doch zum ersten Mal hier auf einem Podium zu sehen - ein außergewöhnliches Erlebnis.

Dadurch, dass die 151 Notizbücher eine Fülle an unveröffentlichtem Material bergen - im Unterschied zu den in fünf Journalen publizierten Tagebüchern, die zwischen 1975 und 1990 entstanden, hat Handke aus dem nun in den Blick rückenden Zeitraum von 1990 bis 2015 lediglich „Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015“ veröffentlicht -, werden sie wie das 2008 übernommene Konvolut zweifelsohne zu einer der meistgenutzten Quellen des Marbacher Archivs avancieren. Hinzu kommt, dass sie auch den Zeitraum umfassen, als der Reisebericht „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“, erschienen 1996, zum Gegenstand öffentlicher Kontroverse wurde. Ob aus ihnen grundlegend neue Erkenntnisse hervorgehen, bleibt fraglich - Handkes problematische pro-serbische Haltung im Konflikt um territoriale Identitäten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien ist hinlänglich dokumentiert und publiziert.

Obwohl über den genauen Kaufpreis Stillschweigen vereinbart wurde, darf die Tatsache, dass diese jüngste Erwerbung des DLA erst durch die Unterstützung der Hubert Burda Stiftung, der Kulturstiftung der Länder sowie des Staatsministeriums für Kultur und Medien möglich wurde, auch als Ermutigung zum Tagebuchschreiben aufgefasst werden. Wer dem dann noch ein literarisches Werk von Weltgeltung folgen lässt, erhöht seine Chancen beträchtlich, dass seiner gesamten Produktion ähnliche Wertschätzung zuteil wird wie der Peter Handkes.