Christian Werner und Corinne Steudler als orientierungslose Menschen im Zentrum des von Alejandro Quintana an der tri-bühne in Stuttgart inszenierten Protestschreis, den Wolfgang Borchert mit 26 Jahren in nur wenigen Tagen verfasst hat. Foto: tri-bühne/Schill - tri-bühne/Schill

Das von Alejandro Quintana an der tri-bühne in Stuttgart inszenierte Werk von Wolfgang Borchert beeindruckt.

StuttgartDas Panoptikum lebt. Es wird bevölkert von skurrilen Grenzgängern ihrer eigenen Erinnerungen. Gott ist ein alter Mann mit Fusselbart, an den im Nachkriegsdeutschland kein Mensch mehr glaubt. Sein Gegenspieler, ein fett gewordener, ständig rülpsender Knochenmann, dessen Geschäfte glänzend laufen. Beckmann, der Kriegsheimkehrer mit kaputtem Knie und kaputter Seele, seine Frau, die ihn vergessen hat, das Mädchen, das seit drei Jahren auf ihren vermissten Mann wartet und der mit nur einem Bein zurückkommt, ein perverser Oberst und ein feiger Kabarett-Impresario. Die schrill ausstaffierte Elbe nicht zu vergessen, in die es die Nachkriegsopfer magisch zieht.

Das ist das durchweg großartige Personal im Army Look – von Renáta Balogh ausstaffiert –, das das albtraumhafte Kriegsheimkehrer-Drama „Draußen vor der Tür“ wie ein eierndes Jahrmarktkarussell antreibt. Alejandro Quintana inszenierte diesen Protestschrei gegen die Grausamkeit des Krieges, das der 26-jährige Wolfgang Borchert 1946 in nur wenigen Tagen verfasst hat, an der tri-bühne als sagenhaftes Kreaturentheater in der Tradition der polnischen Theateravantgarde mit dem orientierungslosen Mensch im Zentrum.

„Ich scheiß auf deinen Selbstmord“

Dabei ist Christian Werners physische Leistung als junger Beckmann einfach toll, dessen „kleine Handvoll Leben“ der Elbe (verführerisch und bestimmend: Susan Ihlenfeld im algengrünen Sirenenfummel) zu wenig ist. „Ich scheiß auf deinen Selbstmord“, keift sie jenen tief traumatisierten Grenzgänger an, der mit schräger Gasmaskenbrille wie ein Fisch aussieht, zwischen Leben und Tod, zwischen Traum und Wirklichkeit, dessen Todessehnsucht nach drei Jahren Stalingrad größer ist als sein Glaube an Gott und die Welt. Der „liebe“ Gott ist ein weinerlicher Jammerlappen mit Parkinson, dessen Stimme zu leise geworden ist, für diese Welt, die in Schutt und Asche gebombt wurde.

Begleitet vom peitschenden Live-Rock der Band „Söhne der Elbe“ irrt Beckmann durch das zerstörte Hamburg und hat dafür eine wohltuend leere Bühne zur Verfügung, die eindringliche Szenen-Bilder erlaubt. Die Sprache, das Spiel und die Musik sind so intensiv, dass es nur weniger Requisiten bedarf, um diese kraftvolle Stakkato-Inszenierung auszustatten. Stephen Crane hat dafür lediglich transparente Rolltüren geschaffen. Schließlich wird in „Draußen vor der Tür“ kaum ein Satz häufiger gesprochen als „Ich bin raus.“ Ausgeschlossen von der Gesellschaft. Beckmann fühlt sich für den Tod von elf Soldaten verantwortlich. Ihn jagt ein immer widerkehrender Xylophon-Traum, der ihn nicht mehr loslässt: Ein fetter Spieler schwitzt Blut, während er mit Knochen auf dem Instrument spielt. Das wird nur erzählt. Doch die leise begleitende Kakofonie erzeugt im Kopf ein bizarres Bild.

Beckmanns Schatten ist der Andere (meist aus dem Off: Sebastian Huber, von dem auch die Kompositionen stammen). Der Optimist glänzt als geübter Zukunftsexperimenteur. Er rät, die Verantwortung zurückzugeben an den Oberst. Der durfte Kaviar essen, während die Soldaten nichts anderes gemacht haben als „gehungert, gefroren, geschossen. Krieg. Sonst nichts“. Uwe-Peter Spinner gibt als Oberst die gelungene Karikatur eines Nazischergen: machtgeil und pervers. Er hält Beckmann für einen Komiker und empfiehlt ihm das Kabarett. Dem Impresario (Manoel Vinicius Tavares da Silva) schillert das Vorsprechen zu wenig. Er will kein nass-kaltes Anfänger-Gespenst. Er will Positives wie Goethe, Mozart, Shirley Temple oder Costa Cordalis.

So muss Theater sein

Auch der letzte Rettungsanker klatscht ins Leere. Im Elternhaus hat sich die herzlose Frau Kramer eingenistet. Vater und Mutter haben sich „selbst entnazifiziert“, als das vorbei war „mit den braunen Jungs“. Blöd gelaufen. „Von dem Gas hätte man einen Monat kochen können“, bedauert sie mit saftigem Hamburger Platt. Beckmann röhrt: „Ich halt das nicht mehr aus.“ Die Band rockt, die Türen drehen sich abartig schnell im Kreis, dass einem allein vom Zuschauen schwindelig wird. Die Eltern sind tot, das Söhnchen ist tot, die Ehefrau (Corinne Steudler) hat mit Florian Dehmel als Liebhaber bereits Ersatz im Bett, und der Andere verlangt gnadenlos: „lebe!“ Den Kopf nicht hängen lassen, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht – so lautet die Devise. Christian Werner windet und wälzt sich als verzweifelter Beckmann im schmutzigen Soldatenmantel auf dem Boden. Er schreit und tobt bis zur Erschöpfung auf diesem endlos erscheinenden Blindgleis des Lebens. Er hat kein Ticket für die Zukunft. Endstation. Da fällt auch dem Ja-Sager keine Antwort mehr ein. Er verstummt.

Zwei prall gefüllte Stunden ohne Pause, die keine Sekunde zu lang werden. Bis auf Christian Werner haben alle Schauspieler Doppelrollen in dem sehr zeitgemäß adaptierten Theater mit Musik und Gesang, mit Rhythmus in der Sprache, mit komödiantischem Witz und Ironie. Obwohl das Stück heftig ist, ist es alles andere als niederschmetternd. So muss Theater sein, wenn es wachrütteln will gegen die kriegerischen Drohgebärden der Polit-Zampanos dieser Welt, auf florierende Waffenexporte deutscher Unternehmen aufmerksam machen möchte und den Kriegs-Opfern sowie Soldaten heutiger Zeit eine Stimme gibt.

Weitere Aufführungen: 19. 25., 26. und 30. Mai, jeweils 20 Uhr.