Jubelnde Gaffer, meuchelnde Täter: Die aggressive, aufgehetzte Masse ist die wahre Naturkatastrophe. Foto: A. T. Schaefer - A. T. Schaefer

Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenieren die Uraufführung von Toshio Hosokawas „Erdbeben. Träume“ an der Stuttgarter Oper. Marcel Beyers Libretto ist eine freie, nicht unproblematische Reflexion von Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“.

StuttgartKlingt so der Hass? Im rhythmischen Unisono skandierende Chorsätze in einer rohen, zugleich merkwürdig verschobenen Tonalität, das gellende Tritonus-Intervall – seit barocken Zeiten apostrophiert als „Teufel in der Musik“ – die krude Klangrede signalisierend: So etwas wie vergessen und verdrängt geglaubter Massenkult tönt in diesen Chören, ein Echo der sogenannten gemäßigt modernen Musikästhetik der 1930er- bis 50er-Jahre. Es ist ohrenscheinlich kritisch gemeint: kollektiver Ausdruck in seiner ganzen Ambivalenz, zwischen emanzipatorischem Aufbegehren und dessen Umkippen in Massenterror, der alles vernichtet, was anders ist. Der Teufel in der Musik als Teufel von Masse und Macht. Wenn aber dann, ganz am Ende der Oper, die Toten zu betrauern sind, die gleichermaßen aufs Konto einer Naturkatastrophe wie der entfesselten Massen gehen, klingen die Chöre beinahe wie Brahms. Das ästhetisch Reaktionäre samt dem krokodilstränenhaften Rückgriff auf gefahrlose Erbaulichkeitsbestände sind die Siegel der kollektiven Gewalt im Hallraum einer ganz anderen, avancierten Klangsprache.

Opfer mit Täterpotenzial

Oder sieht der Hass so aus? Ein androgyn wirkender Knabe, der aus einem Spalt im lückenhaften Bretterboden den Kopf hebt, in die Klangsphären lauscht, sich die Wangen klopft, herauskriecht und in wirrer Aggressivität die Luft boxt: Philipp, der als Traum das Trauma eines Waisenkinds vergegenwärtigt, dessen Eltern von den mörderischen Massen gelyncht wurden, wird von der japanischen Schauspielerin Sachiko Hara gespielt. Als einzige asiatisch aussehende Figur könnte er/sie einer von Mao Tse-tungs jungen Kulturrevolutionären sein – ein Opfer mit Täterpotenzial, einer, der erlittene Pein heimzahlt und zugleich die Rebellion gegen den Terror in neuen Terror lenkt: Wir sehen ihn als Vorturner kollektiver Revolutionseurythmie (wobei ihm die Massen freilich nicht folgen) in jener Szene, die den fragilen und kurzen Einstand von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit meint. Und wir sehen ihn am Ende, wie er einer Puppe den Kopf abbricht, die für sein anderes Baby-Ich hätte stehen können – damals, als seine Eltern getötet wurden. Auch das ein zwiespältiges Bild: anrührend, wie er sein eigenes Haupt auf die nunmehr kopflose Puppe setzt, sich in eine frühkindliche Identität verschiebt, die ihm geraubt wurde. Aber: auch ein Symbolbild des großen Köpferollens nach jeder Revolution.

Alles ist Verschiebung in Jossi Wielers und Sergio Morabitos Uraufführungsinszenierung von Toshio Hosokawas „Erdbeben. Träume“ im Stuttgarter Opernhaus: Täter und Opfer, Ängste und vermeintliche Gewissheiten, Utopie und Terror werden in- und gegeneinander verschoben; wie in der Vorlage, Kleists „Das Erdbeben in Chili“, die Naturkatastrophe mit der Erde zugleich das soziale Gefüge beben und sich verschieben lässt. Und als Abschiedsinszenierung des Intendanten Wieler und seines Regie-Kompagnons Morabito, die beide mit Ende der Spielzeit das Haus verlassen,verschiebt „Erdbeben. Träume“ den Anspielungshorizont zu einem lokal brisanten Epizentrum: „Erdbeben. Alpträume“ – die Pointe muss sein – könnte auch fürs marode und sanierungsverzögerte Stuttgarter Opernhaus gelten.

Zurück zum Stück: Der Librettist Marcel Beyer hat Kleists Novelle nicht dramatsiert, sondern seinerseits verschoben in eine lyrische, ringförmige Reflexion des Geschehens (was die Lektüre der Novelle vor dem Opernbesuch ratsam macht). Kleists 1803 entstandene Erzählung der aus Standesgründen verbotenen Liebe zwischen Josephe und Jeronimo – sie wird ins Kloster gesteckt und bringt dort das gemeinsame Kind zur Welt, er wird inhaftiert, sie zum Tod verurteilt – verwandelt das Erdbeben in ein Gleichnis fundamentaler Erschütterungen des menschlichen Geistes und der sozialen Ordnung. Mit der Naturkatastrophe von 1647 im fernen Santiago de Chile hat Kleist auch das verheerende Erdbeben von Lissabon 1755 gemeint, das die aufgeklärten Köpfe den Glauben an die „beste aller Welten“ und an die Rationalität Gottes verlieren ließ, und vor allem hat er die Französische Revolution mitbedacht. Die vom Autor antiklerikal zugespitzten Gewaltverhältnisse zerbrechen mit dem Erdbeben, im großen Crash bersten die Gefängnismauern samt der Standesgrenzen. Das Liebespaar ist befreit wie der überlebende Teil der Menschheit, das Gleichheitsidyll jenseits der Stadt endet indes schon nach einem Tag mit der Rückkehr ins zerstörte Santiago. Befeuert von einem Hassprediger formiert sich die brüderliche Sozietät zum rachsüchtigen Pöbel, der kurzen Pogromprozess macht mit den Sündenböcken Josephe und Jeronimo, und nur durch eine Verwechslung kommt deren kleiner Philipp mit dem Leben davon. Statt seiner wird ein anderes Kind ermordet, das Söhnchen von Elvire und Fernando, beide vergebliche Beschützer der Liebenden und nach deren Tod Adoptiveltern ihres Waisenknaben.

All das spiegelt Beyer in Poesie ohne Nacherzählung, die gärenden Ressentiments in finster biologisierender Metaphorik (man fühlt sich unterminiert von gefräßigen „Speckkäfern“), die Aktionsszenen in heutigen Reportagefetzen (ein „Straßenfest“ kippt in Aggression, ein „Bierbike“ in der „Fußgängerzone“ nimmt Kurs auf die Gewalttat). Die Figurenkonstellation hat Beyer über Eck gelegt, zwei Kleist’sche Randfiguren definieren Perspektive und Tathandlung: Der traumatisierte und für immer verstummte Knabe Philipp schürft in den alpträumerischen Erinnerungssequenzen zurück in „seine“ Ursprungstragödie (seine Geburt ist der Tod der Eltern), die in Wahrheit das Werk des aufgehetzten Mobs ist und seines Einpeitschers, des vom Wachmann zum ins Megaphon brüllenden Agitator aufsteigenden Pedrillo. Auch er ist bei Beyer, mehr als bei Kleist, mit Bedeutung aufgeladen, er ist Träger allgemeiner und sehr gegenwärtiger Verrohungsängste („kein Junggesellen-Abschied endet ohne Kabelbinder“), die er als Pegida-naher Hassredner durch überbietende Verrohung beschwichtigt („Wer sich dieser Bewegung widersetzt, der wird zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetscht“).

Séance grauenhafter Verstrickungen

In der Summe ist Beyers Libretto keine Ästhetisierung des Grauens, wohl aber eine stationenhafte Séance grauenhafter Verstrickungen zwischen preziöser Sprache (samt einer unterschwellig bebenden, die Frontlinien unterlaufenden Sprachgemeinschaft) und mancher Plattheit. Aber die Verschiebung der Dramatik in eine neue Gestalt konkreter und fasslicher Musiktheatralik gelingt dem Libretto nicht: Es ist Oratorium, nicht Oper. Dagegen arbeiten Wieler und Morabito mit ihrer gewohnt detailgenauen Inszenierung an. Namentlich die Chor-Regie erscheint wie eine Quintessenz früherer einschlägiger Arbeiten des Duos: eine präzise Betrachtung der Masse als Macht und Ohnmacht zugleich, lockend im Überschwang der Verbrüderung, verheerend als verführungsbereite Ressentimentgemeinschaft. Die bespitzelnden Nonnen, der à la Hitlerjugend uniformierte Chor der „sadistischen Knaben“ mit seinem falsettierenden Anführer (Benjamin Williamson), die jubelnden Gaffer und die meuchelnden Täter sind die Gespensterhorden eines kollektiven Geistes, der – frei nach Walter Benjamin – in Solidarität und Emanzipation sein Recht suchen müsste und stattdessen nur seinen brutal verzerrten Ausdruck findet. Wieler und Morabito inszenieren das als Skepsis, deren Bezüge zum aktuellen Populismus-Wahnsinn sich zwanglos einstellen – und doch von durch die Struktur von Beyers Libretto allzu demonstrativ in der Luft hängen. Oder sich in einer Vielzahl von Bezügen verlieren, die Anna Viebrocks obendrein auf Fukushima gemünztem Bühnenbild aufscheinen: ein rissiger Rohbau, eine Brücke, ein Schweinwerferständer wie ein vergrößerter Rasierklingenhalter, dazu Sperrmüll nach der Katastrophe, Treppenstufen – alles langsam auf- und absteigend, mal sich fügend, mal ins Nichts geschoben.

Nicht die Plötzlichkeit markiert also das Beben, sondern die Allmählichkeit der wachsenden, rumorenden Erschütterungen in der Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Und das entspricht exakt Hosokawas Musik, ihren an- und abschwellenden, gleichsam seismografischen Vor- und Nachbeben der Klangkomplexe, ihrem Lauschen auf die inneren Erschütterungen, ihren natur- und bisweilen geräuschhaften, sich in Ostinato-Formulierungen fortschraubenden Erkundungen der tönenden Tektonik, denen atmendes Leben so hörbar eingeschrieben ist wie eine Art Objektivität der Klangprozesse. Die Dramaturgie harter Kontraste ist dieser Musik so fremd wie das Illustrative. Trotz der eruptiven Steigerungen, etwa im „Erdbeben/Tsunami-Orchestermonolog“, ist sie im Grunde eine Tiefenlotung des unendlich Leisen und – am Ende – des unendlich Langsamen, in den Soli der Bassflöte und der Harfe (zu Elvires Arie) konzentriert auf geradezu kalligraphische Feinheit.

Verschwinden des Individuums

Hosokawa schrieb letztlich ein fulminantes Orchesterdrama, in dessen Sog die solistischen Vokalstimmen gezogen werden – Esther Dierkes’ magdalenenhafte, mild timbrierte Josephe ebenso wie Dominic Großes sensibler Jeronimo und die Elvire Sophie Marilleys mit ihrem überragend intensiven Mezzo. Greller klingt Josefin Feilers von der lüsternen Gafferin zur Helferin bekehrte, am Ende ebenfalls ermordete Constanze, Elvires Schwester, rollengemäß forscher der Fernando André Morschs, stimmlich wie spielerisch trefflich besetzt der Pedrillo Torsten Hofmanns. Doch vom Sprechton der Agitation und der öffentlichen Räume bis zum intim sich herausschälenden Espressivo ziehen die Solostimmen nur die Oberflächenspur der Reibungen und Spannungen dieser wie aus dem Erdinneren quellenden Musik. Sie, die den Chor als szenisches Kollektiv, aber auch als naturhafte, quasi instrumentale Stimme einsetzt, erteilt eine Lektion vom Verschwinden des Individuums, das von abgründiger Tiefe aufgesaugt wird – wie Sachiko Haras sprachloser, in Gestik und Mimik umso beredterer Philipp, der am Anfang und Ende der Inszenierung kopfüber und mit krampfgestreckten Fingern im Spalt zwischen den Brettern versinkt, in der Vergangenheit und im Nichts. Dasselbe geschieht Elvire nach jener harfenbegleiteten „Abschiedsarie“, dem Wendepunkt von der Befreiungsutopie zur Menschenjagd.

Sylvain Cambreling – auch er verlässt als Generalmusikdirektor die Stuttgarter Oper – dirigiert Hosokawas Musik mit äußerster Konzentration in den Verästelungen des Leisen, der subtilen Klangrecherche, dem Nachspüren des untergründigen Bebens: wahrhaft seismographisch und zugleich hoch sinnlich, bis in die feinste Faser gespannt, aber auch akzentuiert und dynamisch in den anschwellenden Erdgesängen. Das Staatsorchester beweist hörbare Exzellenz, der von Christoph Heil einstudierte Opernchor samt Kinderchor gibt Feinheit wie Rohheit grandioses Stimmformat. Dafür und für Wielers und Morabitos beklemmendes, wenngleich nicht unproblematisches inszenatorisches Schlusswort gab es freundlichen Applaus.

Die nächsten Vorstellungen: 6., 11., 13.,18. und 23. Juli.