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Die Ausstellung frönt nicht nur der Pop-Art-Hitparade, sondern spürt differenziert Entwicklungsströmen nach. Andy Warhols Marilyns zeigen eben nicht die reale Monroe, sondern Abbilder von Abbildern.

Von Martin Mezger

Erster Eindruck: lauter gute alte Bekannte. Andy Warhols „Liz“ (Taylor), seine „Marilyn Monroe“ mit zehnfach farbvariiertem Antlitz der Ikone, seine Campbell-Suppendosen, ebenso die Comic-Vergrößerungen Roy Lichtensteins: Pop-Art im klassischsten Sinne, erfolgreich als Pop wie als Art, als kommerztaugliche Vorbilder des Massengeschmacks wie als deren künstlerische Wiederholung. Der Pop-Art-Kult um die Mythen des Alltags ist längst selbst zum Mythos geworden, gefeiert von entsprechenden Kunstmarktpreisen - und für das Angebot zur baldigen Nachfrage hatten die Pop-Artisten selbst gesorgt. Die Druckgrafik, die Reproduktion der reproduzierten Trivialklischees, war ihr stilprägendes Medium. Keine Unikate also, sondern Abzüge in teils beträchtlichter Auflagenhöhe speisten den Markt.

Dabei hatte alles ein bisschen anders angefangen mit dem „Great Graphic Boom“, den 1971 das „Wall Street Journal“ für die damalige amerikanische Gegenwartskunst ausrief. Die Stuttgarter Staatsgalerie macht die Schlagzeile zum Titel ihrer neuen Ausstellung, einer Retrospektive auf den Grafik-Boom in der amerikanischen Kunst von 1960 bis 1990, bestückt aus der eigenen Sammlung. Dank frühzeitiger, bereits Anfang der 60er-Jahre auf die amerikanische Szene blickender Ankaufstrategie und späterer Stiftungen - namentlich des Verlegers Konrad Kohlhammer und des Sammlerpaars Günther und Renate Hauff - verfügt das Museum über eine der herausragendsten Kollektionen amerikanischer Grafik. Damit ist die von Corinna Höper kuratierte Schau in der Lage, eben nicht nur der Pop-Art-Hitparade zu frönen, sondern differenziert den Entwicklungsströmen und ihrer Vielfalt nachzuspüren. Zum Beispiel was die Anfänge des Booms anbelangt.

Rund zehn Jahre vor 1971 lag die Druckgrafik keineswegs auf direkter Linie der amerikanischen Kunst. Der gestisch-abstrakte Expressionismus Jackson Pollocks etwa steht ästhetisch quer zum druckgrafischen Verfahren. „Jack the Dripper“ entzieht sich mit seiner Tropfmethode („Drippings“) und seiner aktionistisch-spontanen Malweise der Logik der Reproduktion. In der Ausstellung ist er mit einer posthum gedruckten, figurativen Radierung aus dem grafischen Frühwerk und einer anonymen Lithographie nach einem typischen Drip Painting vertreten. Die Farbflächenmalerei Barnett Newmans wiederum mit ihren mächtig-markanten Vertikalen lebt von der Spannung malerischer Formgebung, der sublimierenden Auseinandersetzung mit dem Farbmaterial. Newmans in der Ausstellung zu sehende „18 Cantos“, eine Lithografienfolge, blieben daher seine einzigen farbigen Grafiken. Die literarische Assoziation des Titels - zu Ezra Pounds „Cantos“ oder den Canti (Gesängen) von Dantes „Göttlicher Komödie“ - impliziert keinen erzählerischen Subtext, sondern meint die Poesie der kontrastierenden Farbstreifen selbst. Auch für Cy Twombly mit seinen reduzierten Formen und anarchischen Kritzeleien, der Unwiederholbarkeit des Impulses verpflichtet, war die Grafik kein genuines Medium. Seine ausgestellte Radierung „Note IV“ (Notiz IV) fixiert jenen Gestus als „handschriftliche“, aber unlesbare Notation kreisender Linien.

Nicht - oder nicht nur - ein ästhetisches Bedürfnis löste also den amerikanischen Grafik-Boom ab 1960 aus, sondern die Wahrnehmung einer Umbruchzeit, des aufkeimenden gesellschaftlichen Protests gegen den Vietnam-Krieg, der als Gegenkultur verstandenen Beat- und Pop- und Hippiebewegung. Dazu kam - nach der prinzipiell kunstfeindlichen McCarthy-Finsternis - die offiziöse kulturpolitische Instrumentalisierung der 50er-Jahre Avantgarde, etwa des Abstrakten Expressionismus, als eigenständige Ausdrucksform des amerikanischen Individualismus: gegen die nach wie vor als virulent erachtete Bedrohung durch alles Kollektivistische, Kommunistische, Sowjetische. So betrachtet zeigt Robert Indianas Siebdruck-Zyklus „The Demuth American Dream“ - erst 1980 entstanden (und bei Domberger in Filderstadt gedruckt), aber auf ein eigenes Gemälde von 1963 bezogen - eine sinnfällige Pointe: Inmitten logoartiger Wort-Kreise prangt hinter der Ziffer 5 (ein Verweis auf ein Gemälde von Charles Demuth von 1928) ein großer roter Stern: Amerikanische Sternenbanner-Symbolik färbt sich zum Sowjet-Emblem. Letztlich bringt die amerikanische Kunst jener Zeit tatsächlich einen Kollektivismus eigener Art in Anschlag, freilich nicht den propagandistischen des Sozialistischen Realismus, sondern jenen der real existierenden kapitalistischen Massenkultur, ihrer gleichschaltenden Züge zwischen Konsum-Verheißung und gesellschaftlicher Manipulation. Dem entspricht ein veränderter Kunstbegriff, der in der Pop-Art seinen Ausdruck, in der Druckgrafik sein angemessenes Medium und in der Formel von der „subversiven Affirmation“ seine Legitimation und wohl auch Illusion findet. Die demonstrative Wiederholung der kulturindustriell ohnehin wiederholten Massenbildware hat das System nicht unterminiert, sondern Pop durch Art artig gemacht.

Der „Realismus“ der Pop-Art revolutionierte nicht die Gesellschaft, wohl aber die Kunst. Nicht mehr Original und Unikat stiften im einzigartigen Werk ihren exklusiven Wirklichkeitsbezug, vielmehr gründet die „Gegenständlichkeit“ jetzt im endlosen Taumel technisch reproduzierter Simulationen: in der visuellen Medienware von Markenwerbung bis zu Starporträts. Warhols Marilyns zeigen eben nicht die reale Monroe, sondern Abbilder von Abbildern. In diesem Sinne ist die Kopie echter als das Original, weil sie den Warencharakter und den gesellschaftlichen Verwertungszyklus des Imaginären und des Ikonischen aufzeigt. Und dafür ist die Druckgrafik mit der aufgehobenen Differenz von Original und Reproduktion das authentische Medium.

Damit verkehrt sich auch das Verhältnis von Abstraktion und Gegenständlichkeit. Ihre Individualität finden Warhols Ikonen so wenig wie Lichtensteins Comic-Reflexe im Porträthaften, sondern in der abstrakten Struktur der Rasterpunkte bei Lichtenstein, in den ebenso abstrakten „Fehlfarben“-Formen bei Warhol - beides Effekte, die drucktechnische Mängel der massenproduzierten Vorlagen wiedergeben und verstärken. Umgekehrt beansprucht das eigentlich Abstrakte reale Bedeutsamkeit, wenn Frank Stella seinen gegenstandslosen, konzentrischen Farbquadraten Orte rassistischer Unruhen in Südafrika als Titel gibt.

Dass Bilderflut und Bilderlosigkeit sich berühren, sich bedingen, ineinander übergehen, ist eine Lektion dieser Ausstellung. Mehr noch: Im Tanz der suggestiven, aber in die Unwirklichkeit der reproduzierten Reproduktion mündenden Simulation bleibt der Tod die einzige, wenn auch ungreifbare Realität. Deshalb lässt John Baldessari auf seiner Radierung „Large Door“ kopflos abgebildete Killer (oder Kriminalpolizisten) die gezückte Knarre in die Nacht hinter der geöffneten Tür richten, deshalb gibt Richard Serra einer massigen Schwarzfläche den Friedhofstitel „Père Lachaise“, deshalb schimmert Warhols „Elektrischer Stuhl“ als schemenhafter, kaum zu erkennender Farbreflex. An der Grenze der Darstellbarkeit beginnt die Wirklichkeit.

Bis 5. November. Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr.

Öffentliche Führungen beginnen donnerstags um 18 Uhr, samstags und sonntags um 15 Uhr.

Der Katalog kostet 24,90 Euro.