Überragend: Hans-Christoph Rademann und die Gaechinger Cantorey in Händels „Belshazzar“. Foto: Holger Schneider Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Natürlich würde Mutti ihrem missratenen Bengel gern die Ohren langziehen. Geht aber nicht, denn der ist (Staats-)Chef. Und ein schlimmer Finger: Schwelgt in Ausschweifungen, während sein Imperium untergeht, nimmt’s mit den religiösen Gefühlen anderer nicht so genau. Seinen Babylonier-Trollinger kippt er zum Jux schon mal aus heiligen Gefäßen, einst geklaut aus Jehovahs Tempel zu Jerusalem. Worauf ihm der Herr Zebaoth gottesmäßig eine reinwürgt: An der Wand erscheint eine Flammenschrift, die ihm den baldigen Untergang ankündigt - das berühmte Menetekel. Und was tut Mutti? Hofft auf Reue, startet verspätete Erziehungsversuche - alles fruchtlos. Belshazzar bleibt in Georg Friedrich Händels gleichnamigem Oratorium standhaft liederlich wie später Mozarts Don Giovanni.

Einer von uns

In sein biblisches Werk über den babylonischen König, dessen Ende zugleich das jüdische Volk aus seiner Gefangenschaft befreit, hat der Meister eine Art Mutter-Sohn-Soap eingebaut - und auf Seiten des Filius mit einiger Ironie versehen, die sich in späte Kenntlichkeit verwandelt: Belshazzar, dieser fröhlich frevelnde Hedonist, dieser religiöse Ignorant, der nur den Götzen eines eitlen Materialismus dient - er ist einer von uns, näher als die Gottschauer, Zwangsbeglücker, Tugenbolde, die sonst Händels Oratorium bevölkern. Wenn er über die zwangsimmigrierten Juden spricht, klingt‘s wie heute der säkulare Missmut über muslimische Fundamentalisten: „Was tun die hier? Sie neiden uns eine Freiheit, die sie selbst nicht genießen können.“

James Gilchrist, Titelrollen-Tenor in der Aufführung zum Musikfest-Abschluss mit der Gaechinger Cantorey in Hans-Christoph Rademanns Leitung, macht denn auch konsequent die Rampensau: Grinsend, gestikulierend und lauthals jovial empfiehlt er sich im „Wir verstehen uns“-Ton dem Publikum im Beethovensaal. Dass die Koloraturen in seinen Saufgesängen nicht immer passgenau sitzen, passt umso besser zum Rollenporträt. Ein Bösewicht? Ach was. Ein Komödiant des Menschlich-Allzumenschlichen. Möglicherweise hat Librettist Charles Jennens selbst die Sympathie-Gefahr gesehen. Deshalb hängt er Belshazzar den Mord am Sohn des Dissidenten Gobrias an, der nicht in der biblischen Quelle (dem Buch Daniel) steht, sondern beim Altgriechen Xenophon.

Trotzdem kommen gegen Belshazzar weder Gobrias, den Bassist Peter Harvey mit nobler Blässe singt, noch die moralinsaure Mutter Nitocris an, der Händel allerdings wundersame Musik auf die Stimmbänder notiert hat: In einem staunenswerten Monolog menetekelt sie - Spenglers „Untergang des Abendlandes“ vorwegnehmend und antike Staatsphilosophie nachbetend - über Aufstieg und unweigerlich folgende Dekadenz der Imperien. In der Arie „The leafy honour“ trällert sie dem Sohnemann allerlei Kehlkopfakrobatik in die Gehörgänge - als Ausdruck und Anklage von dessen Leichtsinn. In „Regard, oh son“ aber - ihre letzte Mahnung - fährt schon ins Orchestervorspiel der neapolitanische Sextakkord, dieses Klangzeichen von Leid und Verzweiflung. Bei der Sopranistin Robin Johannsen entfaltet sich die menschlich-tragische Dimension der Rolle freilich so wenig wie ihre Stimme. Sie klingt eng und unfrei, kippt gelegentlich ins Soubrettenhafte - keine Chance gegen Gilchrists Belshazzar.

Tyrannensturz?

So einfach ist es eben nicht mit dem „Tyrannensturz“, zu dem die Programmmacher des in diesem Jahr unter dem Motto „Freiheit“ angetretenen Musikfests Händels Oratorium erklären. Denn gestürzt wird der angebliche Tyrann, der selbst am lautesten nach „Freiheit“ schreit, von einer Allianz aus staatstragenden und religiösen Kräften: wahrlich kein Befreiungsdrama, im Gegenteil ein Manifest des Gottesgnadentums, verkörpert in dem Imperialisten Cyrus und seinem Propheten Daniel. Dass Cyrus, der militärische Menschheitsbeglücker, in der Stuttgarter Aufführung wie ein Pazifist klingt, verdankt sich nur der runden und gelenkigen, aber viel zu schwachen Stimme des Kontratenors Terry Wey - ein pseudohistorischer Besetzungsunfug, denn Händel hatte die Partie für eine wohl wesentlich durchschlagendere Frauenstimme komponiert. Beim Propheten Daniel hielt man an der originalen Hosenrolle fest, Altistin Wiebke Lehmkuhl singt sie mit emphatischer Intensität und Inbrunst.

Was jenseits feudaler Staatsdoktrin in Händels dramatischem Oratorium, einem packenden Kaleidoskop kontrastierender Charaktere, von bleibender Verbindlichkeit zeugt, ist der vernichtende Schock des Leisen und Lapidaren mitten in der lauten Saturiertheit einer selbstgefälligen, selbstgerechten Zivilisation: Wenige chromatische Staccato-Noten im einstimmigen Piano der Violinen genügen, um das dürre Grauen der Menetekel-Flammenschrift zu zeichnen. Dirigent Rademann richtet seine Interpretation exakt an diesem Wendepunkt aus, lädt bereits in der ungewöhnlich programmatischen Ouvertüre die auf jene Schlüsselszene vorausweisenden Piano-Einbrüche mit gespannter Beklommenheit auf. Überhaupt glänzen die exzellenten Originalklang-Instrumentalisten mit scharfer Konturierung, Verve und gestisch-prägnanter Klangzeichnung. Schlichtweg grandios der Chor in seinen wechselnden Volksgruppen-Rollen (die Platzwechsel auf der weiten Bühne zur Verdeutlichung hätten nicht sein müssen): Üppig lässt Rademann die Koloraturen von Cyrus’ Perser-Scharen rollen, den sakral-archaisierenden Ernst der Juden kontrastiert er scharf mit den Stimmungsliedern und primitiven Unisoni der Babylonier. Das alles fügt sich in trefflichster Charakteristik, gestaltender Transparenz und stimmlich-technischer Perfektion zum überragenden musikalischen Kollektivdrama - auf der Höhe von Händels Genie, der Chöre klanginszenieren konnte wie kein anderer.