Alfred Grosser glaubt unbeirrbar an die Wirkung seriöser Argumente. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Christian Marquart

Stuttgart - Alfred Grosser, der große alte Mann des deutsch-französischen Dialogs seit Jahrzehnten, ist zu Gast im Stuttgarter Literaturhaus. Draußen ist es schwül, aber der Saal ist voll. Grosser, Jahrgang 1925, geboren in Frankfurt und frühzeitig (1933) mit seinen jüdischen Eltern nach Frankreich emigriert, wo er später eine glanzvolle Karriere als Wissenschaftler, Hochschullehrer, Politikberater und Publizist hinlegte, hat ein neues Buch geschrieben, dessen Titel „Le Mensch. Eine Ethik der Identitäten“ derzeit ziemlich aktuell ist. Zugleich ist es es eine eher persönlich gefärbte Aufarbeitung des Themas, weniger eine ausgearbeitete „Philosophie“.

Falls einige der Besucher eine klassische Lesung erwartet haben sollten, so wurden sie - nein, nicht enttäuscht; denn sie nahmen teil an einer anregenden Debatte, moderiert von Felix Heidenreich vom Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart, später im direkten Austausch mit dem Autor, der nicht nur Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels ist, sondern auch überhäuft wurde mit anderen Auszeichnungen. Grosser ist ein Aufklärer im besten Sinne, dessen Denken und Sprache vorbildlich aufgeräumt sind.

Immer noch emsig unterwegs

Wenn wir hier vom deutsch-französischen Verhältnis sprechen und davon, wie solide es sich im Großen und Ganzen über die Jahrzehnte hin entwickelt hat, so fallen uns neben den Namen einiger Präsidenten, Premierminister und Kanzler eigentlich nur sehr wenige Namen ein - allen voran eben der Alfred Grossers. Zumindest gefühlt hat er den deutsch-französischen Dialog in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute durch seine vielen persönlichen Kontakte praktisch im Alleingang lebendig gehalten. Immer noch ist Grosser emsig unterwegs, auch in Schulen - aber wer seine Rolle, gepaart mit einer immensen Fülle persönlicher Erfahrungen und Kontakte in dramatischen und turbulenten Zeiten, in ein paar Jahren ausfüllen könnte, ist völlig offen.

Faszinierend, überwältigend, fast schon ansteckend ist sein Optimismus, was die Wirkung und den Ertrag seriöser Argumente angeht, selbst im Gespräch mit vernagelten Rechten. Aber vielleicht bewegt sich Grosser doch zu selten in Kreisen eingefleischter Rassisten, um deren erschreckende Harthörigkeit und die Undurchlässigkeit ihrer Denkblasen wirklichkeitsnah ermessen zu können.

„Die Frage der Identität ist auf eine ganz unangenehme Weise zurückgekommen“: So eröffnete Felix Heidenreich das Gespräch mit Grosser und spielte damit auf die erheblichen Differenzen im Verständnis kollektiver und individueller Identitäten an. Denn die sogenannten „Identitären“ sorgen aktuell für Probleme, indem sie einen neuen, man könnte auch sagen: modernisierten Rassismus in den öffentlichen Diskurs einschleusen, der nicht mehr auf biologischen, sondern auf kulturellen Kriterien aufsetzt und so um Akzeptanz bemüht ist. Das „Völkische“, von dem nun wieder öfter als einem kostbaren Schutzgut die Rede ist, wird jetzt bedroht von kultureller Überfremdung - ganz konkret: von religiöser Überwältigung, von finsteren Muslimen, die als fremdgesteuerte Attentäter oder „einsame Wölfe“ der abendländischen Kultur den Garaus machen wollen. Grundlage dieses Denkens ist die zwanghafte Unterscheidung in „wir“ und „die anderen“, auf die man mit dem Finger zeigt.

Für Alfred Grosser ist Identität zunächst Privatsache und keine Zuschreibung von Eigenschaften durch Dritte - und er sieht Identität auch nicht ein-, sondern mehrdeutig. Jeder Mensch lebt und handelt in unterschiedlichen Kontexten, entsprechend bildet er auch mehrfache (Rollen-)Identitäten aus, und das mehr oder minder souverän. Wer hätte das Recht, ihm dabei reinzureden?

Aber es gibt natürlich auch andere Identitäten, die gebunden sind an Kollektive, an Gruppen, an Regionen. Die Bretonen zum Beispiel im Nordwesten Frankreichs kultivieren für Grosser eine respektable Identität, weil sie sich als Gruppe mit buchstäblich weitem Horizont seit Jahren gegen den rechtsradikalen Front National der Le-Pen-Dynastie stemmen. Anders die Katalanen in Spanien - sie wollen, so Grosser, ihren relativen Wohlstand partout nicht mit anderen spanischen Regionen teilen, ihre Neigung zum Separatismus wird also genährt vom blanken Eigennutz.

Identität entsteht durch Synthese

Echte, „eigentliche“ Identität entsteht für Grosser durch das Zusammenspiel, die Synthese einer Vielfalt von Teil-Identitäten - erst dann werden sie interessant in ihrer Vielschichtigkeit. Unterkomplexe Identitäten, die sich nur von schlichten Feindbildern nähren, sind ihm verdächtig; und so wird Grosser nicht selten von Israelis und jüdischen Organisationen der Diaspora als Antisemit beschimpft, sobald er einen faireren Umgang mit den Arabern im besetzten Westjordanland einfordert.

Grosser ist selbstverständlich überzeugter Europäer, was ihn notabene zum natürlichen Komplizen des neuen französischen Präsidenten Macron macht - und schon vor langem zu einem Fan von Helmut Kohl gemacht hatte: „Er war der letzte große Europäer - bis jetzt.“

Was und wieviel religiöse Überzeugungen mit „Identität“ zu schaffen haben - das hängt für Grosser davon ab, wie ernsthaft sich die Menschen den Werten ihres jeweiligen Glaubens verpflichtet fühlen und entsprechend handeln. Da zeigt er sich nicht so optimistisch: „Gute Christen sind bei uns in der Minorität“, sagt er, und auch den reichen Kirchen mangele es an Bereitschaft, Bedürftigen kräftig davon abzugeben.

Nach seiner eigenen Identität befragte Grosser weder der Moderator noch das Publikum im Saal. Die Antwort gab er unlängst in einem Gespräch mit der „Jüdischen Allgemeinen“, und er formulierte sie perspektivisch: „Mensch zu sein, mich in andere hineinzuversetzen. Ständig auf Distanz zu gehen zu mir selbst. Diese Infragestellung ist wesentlich. Man kann vieles nicht verstehen, wenn man nicht auch echtes Mitgefühl für andere entwickelt.“

Alfred Grosser: Le Mensch. Die Ethik der Identitäten. J.H.W. Dietz-Verlag. 288 Seiten, 24,90 Euro.