Wiebke Puls und Christian Löber in „Trommeln in der Nacht“. Foto: Julian Baumann - Julian Baumann

Politisches Regietheater zeigen die Stars Frank Castorf, Christopher Rüping und Thomas Ostermeier beim Theatertreffen in Berlin aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln.

Berlin Mit seiner radikal politischen Interpretation von Goethes „Faust“ eröffnete Frank Castorf das Theatertreffen in Berlin. Allerdings kehrte der ehemalige Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz mit der heftig diskutierten Inszenierung auf eigenen Wunsch nicht an das Haus zurück, das sein Nachfolger Chris Dercon nach dem erfolglosen Start nach nicht ganz einem Jahr wieder verlassen hat. Das aufwändige Bühnenbild Aleksandar Denics für Castorfs Überschreibung des Klassikers als Diskurs über kolonialistische Strukturen wurde für 500 000 Euro im Haus der Berliner Festspiele aufgebaut. Diese Entscheidung sorgte bei vielen für Unverständnis. Wie wichtig der Regiestar noch immer für die Szene in der Hauptstadt ist, zeigten seine Fans mit Aufklebern, die den Weg zur Bühne pflasterten. „Frank, komm nach Hause“ war da zu lesen – nebst einem Bild des Volksbühnen-Rads. Das Original aus Metall war vor dem Gebäude des Theaters aufgebaut und wurde zum Symbol für Castorfs politisches Schauspielertheater, das bis heute stilbildend ist.

Lust auf neue Formen

Neben Castorf war auch die jüngere Generation der Regiegrößen bei der wichtigsten Werkschau des deutschen Theaters in der Hauptstadt vertreten, die noch bis 21. Mai läuft. Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier gehörte mit „Rückkehr nach Reims“ nach Didier Eribons biografischem Roman ebenso zu den Auserwählten der Kritiker-Jury wie der 32-jährige Christopher Rüping, der an den Münchner Kammerspielen Brechts „Trommeln in der Nacht“ neu interpretierte. Eines zeigte die Auswahl deutlich: Die Lust auf ganz neue Formen treibt auch diese drei Regisseure um.

Fast sieben Stunden lang fesselte Altmeister Castorf mit seinem multikulturellen Schauspielensemble die Zuschauer im Haus der Berliner Festspiele mit dem Menschheitsdrama „Faust“. Den Klassikerüberblendet er mit Emile Zolas „Nana“-Roman. Da spürt der Naturalist 1880 dem Leben einer Prostituierten nach. Sie will die bürgerliche, vom Patriarchat geprägte Gesellschaft vernichten. Der langjährige Volksbühnen-Protagonist Martin Wuttke verkörpert den „Faust“ mit dem ihm eigenen Tiefgang, dass die Aktualität auf der Hand liegt.

Die vielfach überinterpretierte Dramenfigur tritt zum Kampf gegen die globale Wirtschaft an. Klug platziert Castorf seine Kapitalismus-Kritik, die bis in die Zeit des Algerien-Kriegs reicht. In der U-Bahn erfährt er mit seinem Mephisto, den Marc Hosemann verführerisch zeigt, wo die Wurzeln des Terrorismus in der zerfallenden westlichen Gesellschaft liegen. Strukturen des Kolonialismus arbeiten die Spieler klar heraus. Dabei perfektioniert Castorf die Kameraarbeit, die seine Regiekunst prägt, immer mehr. Fausts Streben nach Erkenntnis spiegelt Wuttke mit seiner grandiosen Schauspielkunst, die in dieser Rolle voll zum Tragen kommt. Die radikale Dekonstruktion der Frauenfiguren, die in Castorfs Theatermarathon über weite Strecken als Sexobjekte mit Tüll und Federnboa auftauchen, haben etliche Kritiker Castorf negativ ausgelegt. Dem widerspricht Valery Tscheplanowas ungewöhnliche Sicht auf den Gretchen-Mythos. Mit Kindchenstimme und ironischem Unterton hinterfragt die Spielerin Thesen vom „ewig Weiblichen“, mit denen Goethe die untergeordnete Rolle der Frau in seiner Zeit zementierte. Ihr Gretchen ist im besten Sinne subversiv, hinterfragt die Dominanz der Männer in der Gesellschaft. Wenig zu melden haben die Männer im Spiel auch bei Sophie Rois, die als Hexe das Patriarchat und seine starren Mechanismen aufs Korn nimmt. Junge und ältere Zuschauer riss die ehemalige Volksbühnen-Protagonistin zu Begeisterungsstürmen hin.

Eine ungewöhnliche, auf den ersten Blick gar zu starre Form hat Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier für seine „Rückkehr nach Reims“ gewählt. Im Tonstudio spricht die Schauspielerin Nina Hoss den gleichnamigen Roman von Didier Eribon ein. Nina Wetzels Bühne ist ein funktionaler, holzvermiefter Raum. Der französische Soziologe und Philosoph, bekannt durch seine Forschung über die Krise der Linken, hat sich in seiner Autobiografie mit linken Utopien und mit dem Erstarken des Rechtspopulismus beschäftigt. Die große Schauspielerin, Tochter der ehemaligen Intendantin der Esslinger WLB-Intendantin Heidemarie Rohweder und des bekannten Stuttgarter Gewerkschafters Willi Hoss, liest die brillant formulierte Autobiografie ins Mikro. Im Disput mit ihren Tontechnikern erkennt sie, dass darin viel Wahrheit über das Scheitern linker Utopien liegt.

Bestechend ehrlich

Gemeinsam mit seiner Protagonistin sucht Regisseur Ostermeier in der eigenen Biografie der Spielerin nach Antworten auf die Fragen, die Eribon unbeantwortet ließ. Als gelerntem Schweißer gelang es Willi Hoss, die mächtige Gewerkschaft IG Metall in ihrer Inkonsequenz zu entlarven. Mit seinen Mitstreitern baute er eine Arbeitnehmervertretung auf, die auch Belange der Gastarbeiter berücksichtigte. Das Vermächtnis von Hoss, der 2003 starb, bringt seine Tochter schön zum Klingen. Obwohl die Inszenierung formal wenig inspirierend und mit Ostermeiers Filmregie doch reichlich dokumentarisch wirkt, überzeugt der Abend durch Nina Hoss‘ bestechende Ehrlichkeit. „Rückkehr nach Reims“ unterzieht linke Utopien einer schonungslosen Analyse, die tief berührt.

Bertolt Brechts Revolutionsdrama „Trommeln in der Nacht“, im September 1922 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt, hat Christopher Rüping an derselben Bühne fast 100 Jahre später erneut in Szene gesetzt. Damals führte Otto Falckenberg Regie in dem Stück, das mit dem Rückzug des Revolutionärs Kragler ins Private endet. Das Stück spielt 1919 in der Zeit des Aufstands des Spartakus-Bunds. Zu dieser Vereinigung marxistischer Sozialisten gehört der Held.

Rüping war 2015 mit seiner Produktion „Das Fest – jede Familie hat ein Geheimnis“ nach dem Film Thomas Vinterbergs für das Staatstheater Stuttgart schon einmal zum Theatertreffen eingeladen. Den pessimistischen Schluss, mit dem der Dramatiker Brecht haderte, stellt Rüping in Frage. Deshalb hat er für die Müchner Kammerspiele zwei Fassungen inszeniert, die abwechselnd zu sehen sind. In der ersten bewegen sich die Spieler wie im Museum der Theatergeschichte. Sie rekonstruieren die Formen der damaligen Zeit – lange bevor Brecht mit seinem epischen Theater für eine Revolution in der Schauspiel- und Theaterkunst sorgte.

Jonathan Mertz hat ein Bühnenbild geschaffen, das sich zunächst streng am Original orientiert. Der rote Mond und die Pappsilhouetten der Häuser sind der Uraufführung nachempfunden. In der zweiten Fassung symbolisieren karge, grell leuchtende Neonröhren das Zeitungsviertel, in dem sich Kragler mit den Revolutionären solidarisiert. Im Rauch- und Lichtergewirr findet Rüping eine Theatersprache, die den Aufbruch abbildet. Mit einer Formensprache, die verblüfft, interpretiert er den Klassiker neu. Aus dem starken Ensemble sticht Wiebke Puls hervor, die nach der Berlin-Premiere für ihre große Leistung in dieser Produktion mit dem 3Sat-Preis ausgezeichnet wurde.

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