Der Kreisvorsitzende Michael Beck (rechts) überreicht Gerhard Remppis aus Plochingen die Foto: Dietrich - Dietrich

Beim Neujahrsempfang der SPD in der Köngener Eintrachthalle sprach Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. Er wies auf die Verunsicherung vieler Menschen hin. Auch sie müssten von der Politik gehört werden.

Köngen Mit Pfarrer Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, hatte sich der SPD-Kreisverband Esslingen einen sehr nachdenklichen Redner in die Köngener Eintrachthalle geholt. „Zuhören“, lautet seine Antwort auf die Frage, warum nationalistische Populisten solche Erfolge haben. Und er empfahl, die Fragen hinter den einfachen Antworten suchen.

Er verwies auf das Buch „Identity“ von Francis Fukuyama. Der Autor stelle fest, dass die Zahl der Menschen, die Wut über Erniedrigung äußern, zunehme. Die Themen Würde und Erniedrigung zögen sich als roter Faden durch das Buch. „Etwa 30 Prozent der Gesellschaft bestimmen die Diskurse, sagen, was cool ist, der Rest kommt gar nicht mehr vor. Viele fühlen sich schlicht von der Politik alleine gelassen. Diese Entfremdungsprozesse dürfen uns, ob in SPD oder Kirche, nicht egal sein.“ Die politische Linke zerfalle in zu viele kleine Gruppen und Einzelthemen, die populistische Rechte dagegen biete die rückwärtsgewandte „große vereinnahmende Erzählung des Nationalismus“. Lilie fragte: „Was, wenn wir die Vereinfacher nicht allein als Gegner, sondern als unfreiwillige Hinweisgeber sehen? Was, wenn sie uns helfen könnten, die zukunftsweisenden Fragen zu stellen und endlich bessere Antworten zu finden?“

Viele Menschen erlebten die rasanten Veränderungen als Verunsicherung und Krise, erlebten in ihrer eigenen Nachbarschaft die jahrzehntelangen Versäumnisse der Integrations- und Wohnungsbaupolitik und die Härten von Hartz IV. „Sie können die Vorteile von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft für sich nicht mehr so recht entdecken. Auch unter dem Dach der Diakonie begegnen mir Klienten und Mitarbeiter, die den Männern und Frauen da oben nicht mehr furchtbar viel zutrauen.“

Ulrich Lilie sieht große Herausforderungen: „In weniger als einer Generation ist Deutschland so bunt wie heute schon Frankreich, die Niederlande und England, die eine klassische Kolonialgeschichte haben und sich schon länger als Einwanderungsländer verstehen.“ Diese Veränderung brauche politische Gestaltung und eine Organisation von Teilhabe. „Vielfalt ist nicht nur bunt und schön, sie verunsichert auch.“ Multikulti brauche Moderation und gemeinsame Ziele: „Welches Land wollen wir 2030, 2035 sein? Das ist eigentlich eine sozialdemokratische Frage.“

Deutschland werde nicht heterogener und zugleich sozial ungleicher. „Es macht einen entscheidenden Unterschied, wo man alleinerziehend lebt. In Düsseldorf sind Kitas seit Jahren gebührenfrei, es gibt fabelhafte Sportanlagen und ein umfassendes soziales Angebot. Wenige Kilometer weiter in Wuppertal und Duisburg denkt man, man sei in einem anderen Land.“ Arme Städte verzeichneten eine Armutszuwanderung, weil die Mieten dort noch bezahlbar sind. „Die Frage ist: Wie erhalten wir annähernd gleiche Lebensbedingungen in Deutschland?“

Deutschland werde auch älter. „Die Versorgung ist alleine mit professionellen Kräften nicht zu schaffen, jeder muss etwas beitragen, wir brauchen das Wir. Das ist eine nachbarschaftliche, stadtplanerische und kommunale Aufgabe.“ Zudem werde Deutschland digitaler. Viele Berufe fielen weg oder die Arbeit verändere sich grundlegend. Etwa die Hälfte der Menschen sei dafür nicht ausreichend qualifiziert. „Wie verhindern wir, dass die Bildungsverlierer von heute dann endgültig abgehängt werden?“ Nicht gemeinsame Werte hielten eine moderne Gesellschaft zusammen, meinte Ulrich Lilie, sondern das Gefühl aller Gruppen, gehört zu werden, sowie das grundlegende Gefühl der Gerechtigkeit.

Das Ehrenamt feiern

Der Kreisvorsitzende Michael Beck wollte mit dem Neujahrsempfang das Ehrenamt feiern. In einer Untersuchung von 1970 bis 1989 in Italien habe der US-Wissenschaftler Robert Putnam nachgewiesen, dass das Engagement in Vereinen, sozialen Einrichtungen, Kirchen und Parteien die Demokratie festigte. „Wir lernen im Ehrenamt den Umgang miteinander. Wir lernen, in einer kleinen Gemeinschaft ein Ziel zu verfolgen. Wir lernen, Konflikte auszutragen“, erklärte Beck. Deshalb sollten Ehrenamtliche an Entscheidungen beteiligt werden. Doch der Kreistag habe beschlossen, dass der Jugendhilfeausschuss nur noch ein beratendes Gremium sein soll – „ ein großer Rückschritt.“

Seit Jahrzehnten politisch aktiv ist Gerhard Remppis aus Plochingen. Er trat 1968 in die SPD ein und wurde erstmals in den Plochinger Gemeinderat gewählt, dem er seither ununterbrochen angehört. Seit über 40 Jahren ist er im Kreistag. Von 1972 bis 1988 war er SPD-Landtagsabgeordneter für den Wahlkreis Kirchheim. Nun überreichte ihm Michael Beck die Willy-Brandt-Medaille, die höchste Auszeichnung der SPD.

Gesungen wurde auch: Die vom früheren SPD-Bundestagsabgeordneten Rainer Arnold gegründete Band „Acoustic Tree“ stimmte das Lied der italienischen Partisanen an und die Gäste stimmten ein: „Bella ciao, bella ciao, bella ciao, ciao, ciao!“

Das Manuskript von Ulrich Lilie steht in Kürze online: www.spd-koengen.de