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Sind 95 Prozent der Bevölkerung immunisiert, haben Masern, Keuchhusten, Röteln und Co. keine Chance. Doch im Landkreis Esslingen wird diese Quote nicht erreicht.

Kreis Esslingen

Impfgegner sind eine „Bedrohung für die globale Gesundheit“, stellte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Januar fest wegen des weltweiten Anstiegs von Krankheiten wie Masern. Krankheiten, gegen die es längst einen Impfschutz gibt. Solch drastische Worte wählt Dominique Scheuermann nicht. Besorgt ist die Leiterin des Esslinger Gesundheitsamts trotzdem. Denn das Grundproblem ist auch im Kreis Esslingen bekannt: Je weniger Menschen geimpft sind, desto leichter breiten sich Krankheiten aus, die ausgerottet sein könnten. Sind 95 Prozent der Bevölkerung immunisiert, haben Masern, Keuchhusten, Röteln und Co. keine Chance. Im Landkreis erhielten aber nur 90,1 Prozent der Vorschulkinder 2017/18 die Grundimmunisierung gegen Masern. Warum Eltern vor der Immunisierung ihrer Kinder zurückschrecken, kann die Ärztin nur vermuten. „Manche Menschen haben möglicherweise Angst vor Impfschäden, andere sind der Überzeugung, dass das Durchmachen einer Erkrankung zu Entwicklungsschüben bei den Kindern führt.“ Zudem führten Informationen im Internet zur Verunsicherung von Eltern. So geistern beispielsweise Meldungen durchs Netz, dass die Kombi-Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln Autismus auslösen kann. „Das ist längst widerlegt worden“, sagt die Leiterin des Gesundheitsamts.

Sie ist überzeugt, dass vielen Eltern die zwei Seiten der Impfung nicht klar sind: „Einerseits geht es um den Individualschutz, andererseits um den Herdenschutz.“ Letzteres bedeutet, dass die Impfquote bei 95 Prozent gehalten wird, damit auch Menschen geschützt sind, die sich nicht impfen lassen können. „Wer Rheuma hat, verträgt unter Umständen den Impfstoff nicht“, sagt Scheuermann. Gefährdet sind auch Säuglinge, weil sie frühestens mit einem Jahr die schützende Dosis gegen Mumps, Masern, Röteln und Windpocken erhalten können. Gegen Keuchhusten, eine Krankheit, die bei Babys zu Komplikationen wie Atemstillstand führen kann, ist die Impfung frühestens mit drei Monaten möglich.

Gegen Windpocken waren 2017/18 nur 81,5 Prozent der Vorschulkinder im Landkreis geschützt. Gefährliche Verläufe bei Kindern sind äußerst selten, aber bei ungeschützten Schwangeren kann es fatalen Konsequenzen für das Ungeborene geben, weiß die Ärztin. Masern können in seltenen Fällen zu Hirnhautentzündung führen. Die Masernenzephalitis, die in der Regel tödlich verläuft, kann noch Jahre nach der Krankheit auftreten. Von einer Impfpflicht hält Scheuermann nichts. Sie sei „medizinisch, noch mehr aber verfassungsrechtlich nicht begründbar“.

Der Kirchheimer Hausarzt Matthias Komp ist nicht per se gegen Impfungen ist. „Jede Impfung ist für sich sinnvoll und im Einzelfall durchaus begründet“, sagt er. Ihre Notwendigkeit allerdings bedürfe der Begründung in jedem Einzelfall. Säuglinge gegen Hepatitis-B zu immunisieren, hält er nicht für sinnvoll, weil die Geschlechtskrankheit über die Haut übertragen werde. Nach der Pubertät unter Umständen gegen Mumps-Masern-Röteln zu impfen, dagegen schon.

Viele Impfungen kommen für Komp zu früh. Das Immunsystem des Kindes sei erst in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres soweit entwickelt, dass es „eine ihm gemäße Immunantwort“ entwickeln könne. „Deshalb müssen die Stoffe mit Substanzen versehen werden, um gewissermaßen eine Immunantwort zu provozieren. Eventuelle Impfversager werden nicht hinterfragt“, kritisiert er. Als Arzt sei es seine Aufgabe, Eltern zu Wissen zu verhelfen, damit sie eine eigenverantwortliche Impfentscheidung treffen können. „Das kann den Zeitpunkt der Impfung, den Umfang der Impfung und den biografischen Zusammenhang betreffen“, erklärt er . Wenn die Impfung eine individuelle Entscheidung ist, was ist dann mit dem Herdenschutz, der immer geringer wird, je weniger Menschen sich impfen lassen? Klärt er die Eltern über diesen Zusammenhang auf? Auf diese Frage antwortet Komp indirekt: Er hält es für „dringend geboten“, erst einmal die Eltern selbst auf ihren „Impfstatus“ hin zu überprüfen, da sie den allerersten Herdenschutz repräsentierten. Erst, wenn diese Frage geklärt sei, solle man sich dem Kind zuwenden.

Mehr Infektionsquellen für Kinder

Das hält Scheuermann für falsch: „Die Gesellschaft hat sich geändert. Die Eltern sind nicht mehr die Herde.“ Kinder gingen früh in die Kita und kämen in Kontakt mit anderen Kindern. In Einrichtungen, in denen wenige Kinder geimpft seien, sei die Gefahr von Krankheiten viel größer. Säuglinge besuchten Pekip-Kurse oder würden von Großeltern betreut. „Die Kinder sind heute früh in verschiedenen Herden unterwegs“, sagt die Ärztin.

Dass die Impfentscheidung abgewogen werden müsse, findet Scheuermann bei Krankheiten wie FSME auch. „Wenn ein Kind immer nur zwischen Schule und Computer hin- und her pendelt, ist die Gefahr eines Zeckenbisses gering.“ Bei ansteckenden Krankheiten wie Mumps, Masern, Röteln, Windpocken oder Keuchhusten sei das „eine ganz andere Geschichte“. Warum werden schon Säuglinge gegen Hepatitis B geimpft? „Damit sie versorgt sind“, sagt Scheuermann. Sind die Kinder nicht geimpft, müssten Eltern später daran denken, das vor deren erstem Geschlechtsverkehr nachzuholen. „Die meisten haben das aber nicht auf dem Schirm.“ Jugendliche blendeten das Thema Impfen komplett aus. Das belegen Zahlen des Gesundheitsamts, die an beruflichen Schulen erhoben werden.