Quelle: Unbekannt

Die Plochingerin Magdalene Bopp hat vor 75 Jahren das jüdische Ehepaar Ines und Max Krakauer versteckt. Die Protestantin war Teil der württembergischen Pfarrhauskette.

Plochingen Berlin im Januar 1943: In der Hauptstadt machen Nazischergen erneut Jagd auf Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens. Am Abend des 29. Januar warnt eine Bekannte Karoline (genannt Ines) Krakauer: „Die Gestapo ist in der Wohnung. Machen Sie schnell, dass Sie wegkommen!“ Die bedrohte Jüdin zögert keine Sekunde. In einer nahe gelegenen Arztpraxis fängt sie ihren Mann Max ab. Dem Ehepaar gelingt die Flucht, die 27 Monate später in Stetten im Remstal enden soll. Dort wird das jüdische Paar durch amerikanische Truppen befreit.

Dass Max und Ines Krakauer die Schoah überlebt haben, ist jenen couragierten Pfarrern und Pfarrfrauen der württembergischen Pfarrhauskette (siehe Anhang) sowie mutigen Frauen und Männern zu verdanken, die die Kirchenleute unterstützt haben. Zu den Unterstützerinnen gehören vier Frauen aus Plochingen: Else Palmbach, Helene Zeller, Magdalene Bopp und Hilde Schuh. Der Plochinger Pfarrer Joachim Hahn, der sich seit seiner Jugend mit der NS-Zeit und der Judenverfolgung beschäftigt, hat nach Spuren der Frauen gesucht. „Über die Pfarrhauskette in Reichenbach und Köngen weiß man inzwischen recht viel. Es war aber lange nicht bekannt, dass es auch in Plochingen einen festen Unterstützerkreis gegeben hat“, sagt der promovierte Theologe.

Weihnachten 1944 hatte das jüdische Ehepaar im Reichenbacher Pfarrhaus bei Theodor Dipper und seiner Familie verbracht. Da viele der Pfarrhäuser unter Beobachtung der Gestapo standen, konnten die Untergetauchten nicht allzu lange an einem Ort bleiben. Um eine neue Bleibe für Ines und Max Krakauer zu finden, die als nichtjüdische Bombengeschädigte Hans und Grete Ackermann aus Berlin ausgegeben wurden, klopfte der Reichenbacher Pfarrer bei der Plochinger Pfarrfrau Else Palmbach an. Während ihr Mann an der Front war, hatte sie das Pfarrhaus auf dem Kirchberg „zu einer Art Sozialstation umgestaltet“, berichtet Joachim Hahn. Gegen Kriegsende war das Haus jedoch „mit Ausgebombten und Evakuierten übervoll belegt“, sodass sie beim besten Willen niemanden mehr aufnehmen konnte.

Um eine Lösung zu finden, besprach sich Else Palmbach mit Helene Zeller. Sie wohnte in der Bergstraße, arbeitete seit 1942 als Gemeindehelferin im Plochinger Pfarramt und hatte zudem eine gute Beziehung zum Reichenbacher Pfarrer Dipper. Und sie kannte Magdalene Bopp, eine gläubige Protestantin, die mit ihren drei Töchtern in der heutigen Esslinger Straße 188 wohnte. Ihr Mann Friedrich war ebenfalls im Kriegseinsatz.

„Meine Mutter war dafür bekannt, dass sie hilft, wenn irgendwo Not ist“, sagt Ottilie Baikhardt, die 1935 geboren wurde und noch heute im elterlichen Haus wohnt. War jemand in der Nachbarschaft krank, „wurden wir Kinder mit einem Korb voller Essen hingeschickt“. Das gute Essen war auch Max Krakauer in Erinnerung geblieben, der den Helferinnen und Helfern in seinem 1947 erschienenen Buch „Lichter im Dunkel“ ein Denkmal gesetzt hat. „Trotz außerordentlich beengter Verhältnisse nahm uns diese einfache Frau freudigen Herzens auf, und ich fürchte, dass sie sehr viele Lebensmittelvorräte, die eigentlich für Notzeiten aufgehoben werden sollten, für uns verbrauchte“, hielt der ehemalige Besitzer eines Filmverleihs in seinen Erinnerungen fest.

Als Ines und Max Krakauer am 16. Januar 1945 das Zimmer im Souterrain des Hauses in der Esslinger Straße bezogen, sagte Magdalene Bopp ihren Töchtern lediglich, „dass jetzt Onkel Hans und Tante Grete zu uns kommen“, erinnert sich Ottilie Baikhardt. „Mehr wussten wir nicht. Und das war sicher auch gut so.“ Denn wer Juden versteckte, brachte sich und seine Familie in höchste Gefahr. „Dass Frau Bopp das Ehepaar Krakauer versteckt hat, ist ihr hoch anzurechnen“, sagt Joachim Hahn. „Denn die Pfarrhäuser standen selbst in der Nazizeit noch unter einem gewissen Schutz. Den gab es für Privathäuser jedoch nicht.“ Die Flüchtlinge brauchten aber nicht nur ein Dach über dem Kopf. Sie mussten auch mit Essen versorgt werden. Im Verlauf des Kriegs wurden die Lebensmittel immer knapper. So war die Versorgung der Hausgäste eine echte Herausforderung. „Wir hatten ja einen großen Garten, Äckerle und auch Hühner, Hasen und Ziegen“, erzählt Ottilie Baikhardt. Zudem gab es ein Netz von Helferinnen, die Lebensmittel organisierten. Die Plochingerin Hilde Schuh gehörte zu diesem Netzwerk, hat Joachim Hahn herausgefunden. Die damals 19-Jährige wohnte mit ihrer Familie im inzwischen abgerissenen alten Schulhaus bei der Ottilienkapelle und arbeitete in der Nanz-Filiale gegenüber dem Alten Rathaus in Esslingen. „Dort hat sie es irgendwie geschafft, Lebensmittel außerhalb der durch die Lebensmittelkarten zugeteilten Rationen abzuzweigen“, erklärt der Pfarrer, der sich bei der Landeskirche auch beruflich christlich-jüdischen Themen widmet.

Die Päckchen mit Gries, Reis und Mehl deponierte die Verkäuferin auf einem Fenstersims von Helene Zellers Haus hinter dem verschlossenen Fensterladen. „So konnten die Päckchen von innen in Empfang genommen werden.“ Da Helene Zeller gehbehindert war, hatte sie ihr Fahrrad nicht abgeben müssen. Sie transportierte die wertvolle Fracht dann mit dem Drahtesel ins Reichenbacher Pfarrhaus, von wo aus Pfarrer Theodor Dipper die Verteilung organisierte.

Wenn sich Helene Zeller und Hilde Schuh im kirchlichen Mädchenkreis trafen, „hat Helene der Hilde oft erzählt, dass sie beim Dipper war“, berichtet die 1929 geborene Frieda Turnaus, die in jenen Jahren den Mädchenkreis leitete. Damals habe sie mit dieser Nachricht nichts anfangen können. „Ich war zwar Gemeindemitglied und aktiv in der Kirche“, sagt sie. „Aber dass es bei uns in Plochingen Menschen gab, die Juden versteckt haben, das haben wir nicht gewusst.“ Als dank des Buches von Max Krakauer bekannt wurde, dass auch in der Gemeinde am Neckarknie Lichter im Dunkel geleuchtet haben, „war mir klar, dass der Satz ,ich war beim Dipper’ das Signal war, dass die Lebensmittel ausgeliefert worden sind“.

Zum Essen saßen Ines und Max Krakauer mit Magdalena Bopp und ihren Kindern gemeinsam am Tisch. Da es damals noch nicht allzu viele direkte Nachbarn gab, habe sich das jüdische Ehepaar auch mal zu einem kurzen Spaziergang nach draußen gewagt. „Ansonsten haben sie sich aber ziemlich unsichtbar gemacht und waren viel in ihrem Zimmer unten“, erinnert sich Ottilie Baikhardt. Ende Januar wurde es dann aber auch in Plochingen zu unsicher für die untergetauchten Juden. „Meine Mutter hatte einen Zettel ohne Absender im Briefkasten gefunden“, berichtet die Tochter. „Was genau draufstand, hat sie uns damals nicht erzählt. Es müssen aber irgendwelche Verdächtigungen gewesen sein.“ Klar war: „In Plochingen zu bleiben, war ausgeschlossen“, heißt es in Max Krakauers Buch.

Nachdem Pfarrer Theodor Dipper von dem anonymen Brief erfahren hatte, setzte er alle Hebel in Bewegung, um einen neuen Unterschlupf zu finden. Am 2. Februar holte der Reichenbacher Fabrikant Robert Schöttle, Chef der Firma Elektrostar, das Ehepaar mit seinem Laster ab. Über zugeschneite Straßen schlug man sich nach Esslingen durch, wo die Krakauers im Pfarrhaus der Südkirche in der Pliensauvorstadt bei Paul und Marianne Schmidt Zuflucht fanden.

Nachdem die Gäste abgereist waren, konnte Magdalene Bopp ihren Kindern keinen reinen Wein einschenken. Denn noch waren die Nationalsozialisten nicht besiegt. Nach dem Krieg habe ihre Mutter zwar verraten, wer Onkel Hans und Tante Grete in Wahrheit waren. „Allzu viel drüber geredet hat sie aber nicht“, erzählt Ottilie Baikhardt, die sich natürlich darüber Gedanken gemacht hat, was ihre Mutter, die 1979 gestorben ist und posthum das Bundesverdienstkreuz bekommen hat, zu der mutigen Tat bewogen hat. „Sie ist nicht nur in die Kirche gegangen. Sie hat einfach gelebt, was sie geglaubt hat.“ Und die Tochter ist sich sicher: „Wenn meine Mutter heute noch leben würde und wir Platz im Haus hätten, hätte sie Flüchtlinge aufgenommen.“

Die württembergische Pfarrhauskette

Verhaftungen: Von den ursprünglich 500 000 Juden in Deutschland lebten Anfang des Jahres 1943 noch 50 000. Binnen zweier Monate sollten auch sie deportiert und ermordet werden. So wurde die Situation für Bürger jüdischen Glaubens in Nazideutschland immer prekärer. Einigen Hundert Juden gelang es jedoch, den Verhaftungen zu entkommen. Sie lebten versteckt oder waren – wie Ines und Max Krakauer – innerhalb des Landes ständig auf der Flucht.

Emigration: Nachdem Max Krakauer 1933 auf Druck eines Mitarbeiters, der überzeugter Nazi war, alle Rechte an seinem 1919 gegründeten Filmverleih hatte abtreten müssen, versuchte er mit seiner Frau in die USA , nach Palästina, Australien oder England zu emigrieren. Alle Bemühungen des jüdischen Ehepaars blieben jedoch erfolglos. Nur ihrer Tochter Inge gelang 1939 die Emigration nach England.

Pfarrhäuser: Nachdem Ines und Max Krakauer im Januar 1943 ihren Häschern entkommen waren, konnten sie sich durch Vermittlung von Berliner Pfarrern zunächst in Brandenburg und Pommern verstecken. Im August 1943 kamen sie nach Württemberg, wo sich im Laufe der Zeit eine Pfarrhauskette gebildet hatte. Ziel war es, Juden und anderen Verfolgten auf der Flucht zu helfen. Viele der Pfarrer waren Mitglieder der Bekennenden Kirche oder standen ihr nahe.

Stationen: Im heutigen Landkreis Esslingen wurde die Pfarrhauskette von 1943 bis 1945 vor allem von Pfarrer Theodor Dipper in Reichenbach organisiert. Er war, wie Joachim Hahn weiß, bereits im KZ Welzheim inhaftiert gewesen und seit 1937 mit einem Redeverbot belegt. Außer in Reichenbach fanden Ines und Max Krakauer beim Köngener Pfarrer Eugen Stöffler und seiner Frau Johanna, bei Pfarrer Paul Hornberger und seiner Frau Lydia in Altbach, in der Esslinger Südkirche bei Pfarrer Paul Schmidt und seiner Frau Marianne sowie bei Magdalene Bopp in Plochingen Zuflucht.

Befreiung: In den 27 Monaten ihrer Flucht fanden Ines und Max Krakauer in 66 Häusern Unterschlupf. Nach ihrer Befreiung lebten sie in Stuttgart. In seinem Buch „Lichter im Dunkel“, das inzwischen im Calwer Verlag neu aufgelegt worden ist, schilderte Max Krakauer die Stationen seiner Flucht. Außer Ines und Max Krakauer sind bisher 17 weitere Personen namentlich bekannt, die die NS-Zeit dank der württembergischen Pfarrhauskette überlebt haben.