Quelle: Statistische Landesämter - Quelle: Statistische Landesämter

Heute ist Welttag der sozialen Gerechtigkeit. Kritiker sehen in dieser Hinsicht auch im reichen Deutschland Nachholbedarf. Eine Annäherung an ein strittiges Thema.

Kreis EsslingenHeute ist „Welttag der sozialen Gerechtigkeit“, wie schon seit 2009 immer am 20. Februar von den Vereinten Nationen ausgerufen. Als Grundlage für ein friedliches und wohlhabendes Zusammenleben innerhalb und zwischen Nationen beschreibt das Bündnis sie auf seiner Webseite. Für eine faire Globalisierung. Aber auch in der bundespolitischen Debatte fällt das Begriffspaar immer wieder. Geht es in Deutschland sozial gerecht zu oder nicht? Und wie sieht es in der Region Stuttgart aus? Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Das liegt nicht zuletzt daran, dass schon das Grundverständnis von sozialer Gerechtigkeit selbst stark differiert.

Die Vorstellung variiert laut der Bundeszentrale für politische Bildung zwischen Leistungs-, Chancen-, Bedarfs- oder Gleichheitsgerechtigkeit. „Jedem das Seine oder jedem das Gleiche“, skizziert Franz Herrmann, Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Esslingen zwei unterschiedliche Vorstellungen. „Unterschiedliche Prinzipien geraten hier in Konflikt. Und oft wird in der öffentlichen Debatte nicht gesagt, welchen Begriff von sozialer Gerechtigkeit die Beteiligten haben.“ Im Hintergrund stehe die Frage: Wie sind in einer Gesellschaft Chancen, Pflichten, Rechte, Einkommen, Besitz, Macht verteilt? „Und: ist diese Verteilung angemessen?“

Doch was angemessen ist, ist Ansichtssache. Gerade in einem wohlhabenden Land wie Deutschland erscheint einigen die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit nicht gerechtfertigt, während andere das Land in Arm und Reich zerfallen sehen – diese Konfliktlage spiegelt sich auch in den Medien wieder. Verschiedene Indikatoren und Studienergebnisse werden herangezogen oder die gleichen Daten unterschiedlich ausgelegt.

Die Bertelsmann-Stiftung hat 2011 eine Studie zum Stand der sozialen Gerechtigkeit in den OECD-Staaten vorgelegt, in der sie diese als „Teilhabegerechtigkeit“ definiert. Neben qualitativen Bewertungen sind etwa Armut, Zugang zu Bildung und Arbeit oder die Vermögensverteilung wichtige messbare Anhaltspunkte. Deutschland kam damals auf Platz 15 von 31, es habe „in Sachen sozialer Gerechtigkeit noch einigen Nachholbedarf“.

Relativ arm

Die Studie wurde bislang zwar nicht erneuert. Allerdings erhebt die Stiftung weiterhin einen Index für nachhaltiges Regieren, der die Verteilung gewisser Chancen, Rechte und Gelder messbar und über die Zeit vergleichbar macht. Zum Beispiel die Einkommensarmut. Sie lag 2008 bei 9,3 Prozent, 2015 bei 10,2 Prozent laut Zahlen von Eurostat. Als von Armut bedroht gelten in diesem Fall Menschen, deren Einkommen halb so groß oder geringer als das mittlere Einkommen der Gesamtbevölkerung ist – seit der Jahrtausendwende ist der Anteil immer weiter angestiegen. Auch die Statistischen Landesämter erheben eine Armutsgefährdungsquote – hier liegt die Schwelle allerdings bei 60 Prozent des mittleren Einkommens. Dieser Anteil hat sich in Baden-Württemberg ebenfalls erhöht: von 13,3 auf 15,3 Prozent.

Dabei ist laut dem Armutsbericht des Landes von 2015 das Armutsrisiko durch Sozialhilfe um gut ein Drittel reduziert worden. Tatsächlich steigen auch die Ausgaben im Landkreis auch wegen des Flüchtlingszuzugs kontinuierlich. Der Sozialbereich hat sein Volumen innerhalb von vier Jahren um 15 Prozent beziehungsweise 22 Millionen Euro gesteigert. Sozialhilfe ziele nicht allein auf die Unterstützung einer individuellen Notlage ab, sondern müsse „ganz wesentlich die in der Region als menschenwürdig angesehenen Lebensbedingungen berücksichtigen und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen“, heißt es in einem Bericht des Landratsamtes von Anfang 2017. „Problematisch ist natürlich das Thema Wohnen, da es im Landkreis zu wenig, vor allem bezahlbaren Wohnraum gibt“, teilt die Pressestelle mit. Die Behörde ist derzeit dabei, an mehreren Stellen die Wohnsituation für von Armut Bedrohte zu verbessern. So will sie sich eigenen Angaben nach künftig stärker aktiv bei der Mietschuldenübernahme engagieren. Und ein neues Konzept für eine Mietobergrenze für Bezieher von Sozialleistungen werde erarbeitet.

Eine rein statistische Messung von Armutsgefährdung erfasse wichtige Aspekte von Armut nicht, monieren dagegen Kritiker. Auch Franz Herrmann erkennt darin ein Kernproblem. „Es ist klar, dass niemand in unserer Gesellschaft verhungern muss. Wir sind ein reiches Land und deswegen können wir ermöglichen, dass alle Menschen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können“, sagt der Professor für soziale Arbeit. Man müsse analysieren, in welchen Bereichen das tatsächlich gegeben sei und wo Personengruppen herausfallen. „Es ist eine normative und politische Frage: Was ist in unserer Gesellschaft an Teilhabe wichtig und wie kann das ermöglicht werden?“

Was ist also angemessen? Eine Befragung des Forschungsdatenzentrums der Bundesagentur für Arbeit aus dem Jahr 2013 ergab, dass mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen, deren Familien von Grundsicherung leben, nicht einmal im Monat ins Kino, Theater oder auf ein Konzert gehen können, während das bei Gleichaltrigen mit gesicherter Einkommenssituation nur bei einem von zehn der Fall ist. Und bestimmte Bevölkerungsgruppen sind nach den Zahlen der Statistischen Landesämter weiterhin stärker von Armut gefährdet als andere: Alleinerziehende, Frauen ab 65, unter 25-Jährige, Menschen mit Migrationshintergrund. Der Anteil der Geringverdiener steigt in Deutschland – ebenso wie der sogenannte Gini-Koeffizient, der die Ungleichverteilung des Vermögens anzeigt. Er nimmt einen Wert zwischen 0 (gleichmäßige Verteilung) oder 1 beziehungsweise 100 Prozent an, wenn nur eine Person das komplette Einkommen erhält, das heißt maximaler Ungleichverteilung herrscht.

Schulreformen erhöhen Chancen

Folgt man der Argumentation der Bertelsmann-Stiftung, gibt es allerdings auch Entwicklungen, die auf eine Steigerung der sozialen Gerechtigkeit hinweisen: Die Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems etwa war im Jahr 2015 größer als sechs Jahre zuvor. Darauf weist der geringere Wert beim Zusammenhang von sozio-kultureller Herkunft mit dem Erfolg bei PISA-Tests hin. Franz Herrmann von der Hochschule Esslingen erkennt darin eine Errungenschaft der Bildungspolitik der vergangenen Jahre: „Die Entwicklung in Richtung mehr Ganztagsschulen und die Aufweichung des dreigliedrigen Schulsystems geht in die richtige Richtung. Mit der bisherigen Selektivität bereits nach der vierten Klasse wurden die gesellschaftlichen Ungleichheiten immer wieder reproduziert. Das neue System läuft aber noch nicht perfekt, weil diese Entwicklung in Baden-Württemberg noch recht jung ist.“

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