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Vor 100 Jahren wurde die Spielvereinigung Jahn Deizisau von kommunistischen Arbeitern gegründet. Als Abteilung des TSV Deizisau wird nun Jubiläum gefeiert.

DeizisauIn roten Trikots spielen die Bezirksliga-Kicker des TSV Deizisau immer noch, aber mit der kommunistischen Partei haben sie nichts mehr am Hut. Vor 100 Jahren war das anders. Im Jahr 1919 gründeten die kommunistischen Arbeiter des Dorfes die Spielvereinigung Jahn. Die Chronik, die Abteilungsleiter Franz Bingel derzeit erstellt, ist deshalb auch ein Stück Deizisauer Sozialgeschichte.

Seit fast zwei Jahren sucht Bingel nach Fotos und historischen Gegenständen. Mehr als ein Jahr hat er daran geschrieben, aktuell läuft die Korrekturphase. Die Materiallage ist gut. Von 1919 bis heute sind sämtliche Protokolle erhalten. Die Fußballer haben in den frühen Jahren wöchentlich aufgeschrieben, was sie unternommen haben. Bingels Problem: Er konnte das Altdeutsche kaum entziffern. Hilfe bekam er von seinem ersten Jugendtrainer: Heinz Edelmann. Der heute 80-Jährige übertrug die alten Texte in den Computer.

Einen zweiten Glückstreffer landete Bingel bei der Suche nach der Gründungsurkunde. Nachdem die Amtsgerichte Esslingen und Stuttgart nicht mit dem alten Vereinsregister helfen konnten, googelte er „Kommunisten-Fußball-Deizisau“ und wurde im Staatsarchiv in Ludwigsburg fündig. Zwei Wochen später meldete sich der Archivar: Er werde ein dickes Kuvert schicken. „Da hat mein Herz gepocht wie beim Kuss von einer jungen Frau“, erzählt Franz Bingel.

Zuerst geht’s gegen Plochingen

Der Fußball, der um 1870 nach Deutschland gelangte, galt zunächst als bürgerliche Sportart. Schalke 04 war 1904 einer der ersten kickenden Arbeiter-Clubs. 1912 stellen einige Deizisauer beim Turnverein den Antrag, eine Fußball-Abteilung zu gründen. Im Juni 1914 beschließt der Verein, für die „Zöglinge“ einen Lederball anzuschaffen. Aber Ende Juli beginnt der Erste Weltkrieg. Den nächsten Anlauf unternehmen die Kicker 1919. Der 22. Mai gilt als Gründungstag der Spielvereinigung Jahn Deizisau. Als Abteilungsleiter werden Karl Huttenlocher und Alfred Leonberger gewählt. „Das waren Hilfsarbeiter, Tagelöhner, Dreher und Schlosser“, sagt Franz Bingel, der 39 Namen ausfindig gemacht hat, die er als Gründungsmitglieder betrachtet. Letztlich ist es seine Interpretation von Dokumenten, die sich zum Teil widersprechen. Gespielt wird auf einer Neckarwiese, neben der damaligen Stahlbrücke. Im ersten Spiel gegen Plochingen trennt man sich 1:1.

Mit den Kommunisten Fußball spielen, war nicht überall gern gesehen. 1920 zieht der Turnverein seine Mitglieder aus der Spielvereinigung zurück. Die Jahn-Kicker tun sich deshalb mit dem Arbeiter-Radfahrer-Verein zusammen. 1922 wird mit einem 1:0-Erfolg gegen Wäldenbronn schon der erste Meistertitel errungen – innerhalb der Liga des Arbeiter-Sport-Bunds.

Als „Reliquien“ bewahrt der TSV die Vereinsfahne aus dem Jahr 1922 und ein rotes Kommunisten-Hemd von 1924 auf. Robert Huttenlocher soll dieses Hemd getragen haben. Vor neun oder zehn Jahren hat Bingel das Hemd im Keller des TSV-Lokals „Brunnenstube“ gefunden. Ältere Mitglieder erzählen, dass es in einem unbenützten Kamin vor dem Nazis versteckt worden sei. Dieses Unrechtssystem traf auch die Deizisauer Fußballer. Im März 1933 wurden die Mitglieder Ernst Kurz und Gottlob Huttenlocher verhaftet und in das „Schutzhaftlager“ auf den Heuberg gebracht. Die 1926 gebaute Sporthalle und die Geräte werden beschlagnahmt. Im April nimmt der Turnverein die roten Fußballer auf und meldet sie beim DFB an.

1939 werden die Deizisauer nochmals Staffelmeister der A- Klasse, da beginnen die Nazis den nächsten Krieg. In den Kriegsjahren versuchen die Daheimgebliebenen mit Altbach und Zell zusammen ab und zu ein Freundschaftsspiel auszutragen.

Ernte wichtiger als Fußball

1946 gründet sich die Spielvereinigung Jahn ein zweites Mal. Am 31. August beschließt eine Versammlung in der „Linde“ den Zusammenschluss von Sportvereinigung und Turnverein. Doch die Eigentumsfrage der Turnhalle ist umstritten – ein Teil gehört dem Gesangverein Vorwärts. Deshalb kommt der offizielle Zusammenschluss erst im Oktober 1951 zustande. 1951 wird auch der neue Sportplatz an der B 10 eingeweiht. 1947 hatte man das Projekt wegen der schlechten Ernährungslage verschoben. Die Ernte hatte Vorrang.

Eine ungewöhnliche, auch umstrittene Reise führt die Fußballer an Pfingsten 1954 in die „Ostzone“. Man bestreitet Freundschaftsspiele gegen die BSG Empor Riesa und die BSG Motor Oschatz. Im September – fast sensationell – dürfen die Kicker aus der DDR nach Deizisau kommen. 1959 feiert man das 40-jährige Bestehen mehrtägig und weiht die Turnhallen-Gaststätte ein. Ein großer Schritt führt die Fußballer 1971 zum neuen Spielgelände auf die „Hintere Halde“, wo auch das Vereinsjugendheim eröffnet wird. Sportlich geht es nach vielen erfolgreichen Jahren und mancher Meisterschaft Anfang der 70er-Jahre runter bis in die C-Klasse.

1978 passiert in Deizisau Unerhörtes: Der TSV gründet eine Frauenmannschaft. Zu ihrem ersten Turnier 1981 kommt sogar die Zweite von FC Schalke 04. Bei vielen unvergessen sind die Spiele des Bezirksligisten gegen die Bundesligatruppe von Eintracht Frankfurt im Jahr 1984 und vier Jahre später gegen Dynamo Kiew, wieder gemeinsam mit Dettinger Spielern. Den bisherigen sportlichen Höhepunkt erklimmt man 2010: Deizisau spielt in der Landesliga.

Dass die Fußballer gerne feiern, belegt die Chronik ebenfalls. Erwähnt sei nur das jährliche Sommernachtsfest. Ausflüge führen nach Paris und Rom. Organisieren können die Fußballer, ein Höhepunkt ist der EZ-Pokal, mit dem 2004 die Einweihung des Kunstrasenplatz gefeiert wird. Im Mai 2012 wird das neue Vereinsheim auf der „Hinteren Halde“ eingeweiht, die Gemeinde hat 1,2 Millionen Euro investiert, die Vereinsmitglieder viel Arbeit.

Seine Jugendarbeit zeichnet den TSV Deizisau seit vielen Jahren aus. Etwa 200 Jugendliche kicken in zwölf Mannschaften. Ein Selbstläufer ist das nicht, wie das Beispiel B-Jugend zeigt: Seit drei Monaten gibt es keine mehr. „Es gibt heute zu viele Angebote für Jugendliche“, sagt Gabi Bingel, die für die Abteilung und das Vereinsheim so wichtig ist wie ihr Mann. Insgesamt zählt die Abteilung rund 500 Mitglieder. Die erste Herren-Mannschaft spielt in der Bezirksliga, die Frauen in der Kreisliga A. Etwa 50 Senioren treten noch gegen das Leder und viele davon sind im Verein engagiert. Ehrensache ist, dass die Abteilung dieses Jahr erneut das Deizisauer Hauptfest aus. Nach dem Jubiläum wollen aber zwei ihr Ehrenamt an den Nagel hängen: Franz und Gabi Bingel scheiden nach 17 Jahren aus dem Abteilungsrat aus.