Bis ins Kleinste behindertengerecht wird das Haus von Christian Stürmer umgebaut. Damit will der contergan-geschädigte Jurist zeigen: Auch ein Behinderter habe Anspruch auf ein gewisses Maß an Luxus. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Harald Flößer

„Ein Behinderter hat genauso Anspruch darauf, sein Leben zu genießen.“ Christian Stürmer sagt das ohne Groll, aber man hört seinen Kampfeswillen heraus. Der 55-Jährige aus Ostfildern setzt sich seit Jahren dafür ein, dass Menschen mit Handicap genauso am Leben teilhaben können wie andere. Diese Hilfe dürfe sich nicht auf eine billige Rollstuhlrampe beschränken, sagt er. Am eigenen Leib hat der gebürtige Düsseldorfer von klein auf erfahren, wie hart dieser Kampf ist: Stürmer zählt als Contergan-Geschädigter zu den bis zu 10 000 Opfern eines der schlimmsten Arzneimittelskandale in der Bundesrepublik. Doch er denkt dabei nicht nur an sein eigenes Fortkommen.

Genau für dieses Engagement hat der Jurist den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg erhalten. Auf solche Vorbilder sei jedes Gemeinwesen dringend angewiesen, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei der Verleihung in Mannheim. „Weil sie ihre Stimme erheben und sich für andere stark machen.“ Das hat Stürmer über viele Jahre getan. Nicht zuletzt seiner Beharrlichkeit ist es zu verdanken, dass die Contergan-Opfer eine adäquate Entschädigung erhalten, sei es als Rente oder für die Pflegeassistenz.

„Da muss was passieren“

Über sein eigenes Schicksal mag Stürmer gar nicht groß reden. Ein einziges Mal habe seine Mutter dieses Medikament genommen, als sie 1961 mit ihm schwanger war. Ihr Christian kam mit einer schweren Schädigung der Beine zur Welt. Er habe sich von Kindheit an immer und überall durchgesetzt, erzählt er. Zusammen mit seiner Partnerin Nancy Roski hatte er eine eigene Firma. In Salem vertrieben sie Kaffee. Doch aus gesundheitlichen Gründen musste Stürmer diese Arbeit 1995/96 aufgeben. Danach begann er, in Hannover Jura zu studieren. In den Folgejahren habe er viele Leidensgenossen kennengelernt. „Ich habe gemerkt, dass da was passieren muss“, erzählt er. Und so erwuchs in ihm der Plan, das Contergan-Netzwerk Deutschland zu gründen, dessen Vorsitzender er seit 2008 ist. 650 Betroffene schlossen sich dem Internetportal an. Gemeinsam wolle man etwas tun gegen die Ungerechtigkeit, die nach seiner Überzeugung den Contergan-Opfern widerfahren ist. „Der Staat hat sich damals schützend vor die Pharmaindustrie gestellt“, kritisiert er. „Wir wurden mit einem Butterbrot zu den Sozialkassen geschickt.“ Man sei davon ausgegangen, dass die Opfer nur ein paar Jahre leben. Doch noch immer kämpfen sich Tag für Tag rund 2700 Geschädigte durchs Leben. „Manche brauchen drei Pflegekräfte“, berichtet Stürmer. Doch die niedrigen Entschädigungen hätten längst nicht für alle notwendigen Hilfeleistungen gereicht. Wegen der einseitigen Körperhaltung hätten die meisten Mittfünfziger heute Abnutzungserscheinungen wie 70- oder 80-Jährige.

Paradigmenwechsel im Jahr 2013

Stürmer begann, den Fall rechtshistorisch aufzuarbeiten. Oftmals wälzte er nächtelang Akten. Und er reiste mit seinem Anliegen über Jahre quer durch die Republik und spannte viele Menschen vor den Karren. Prominenteste Unterstützerin ist bis heute die Sängerin Nina Hagen. Der Ruiter knüpfte Kontakte mit der Politik, unter anderem mit der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA). „Bei einer Busreise nach Berlin mit 50 Leuten aus dem Netzwerk konnten wir mächtig öffentlichen Druck machen“, erinnert sich Stürmer. „Wir kamen dadurch immer eine Stufe höher.“ Als Glücksfall habe sich dann die Hilfe durch den Esslinger CDU-Bundestagsabgeordneten Markus Grübel erwiesen, der damals im Familienausschuss des Bundestags für Contergan zuständig war. Als er dann noch den stellvertretenden CDU-Chef Thomas Strobel gewinnen konnte, „war der Boden bereitet für einen Paradigmenwechsel.“ Stürmer meint damit das seit 2013 geltende 3. Conterganstiftungsänderungsgesetz, an dem er als Sachverständiger beteiligt war. Danach stehen den Geschädigten jährlich 90 Millionen Euro für Renten und weitere 30 Millionen Euro für den spezifischen Bedarf wie Kuren zur Verfügung.

Als Vorsitzender des baden-württembergischen CDU-Netzwerks „Chancen für alle - Menschen mit und ohne Behinderung“ kämpft der für eine belgische Firma arbeitende Jurist weiter dafür, dass das Leben mit einem Handicap nicht Einschränkung bedeuten muss. Jeder habe Anspruch auf einen gewissen Luxus. Den will er sich auch selbst gönnen. Deshalb bauen er und seine Lebensgefährtin gerade ihr Reihenhaus in Ruit komplett um. Er nennt es auch ein „Projekt für die Gleichwertigkeit der Menschen“. Das müsse in der Gesellschaft zum Selbstverständnis werden. Unterstützt wird er dabei von der Stuttgarter Gesellschaft für Bauen und Sanieren, von er das 1961 erbaute Haus komplett barrierefrei gestalten lässt. Stürmer setzt dabei auf Breitenwirkung. Die Filmproduktionsfirma Desert Ship Studios (Stuttgart) dokumentiert das Projekt. Sechs bis zwölf Folgen sollen im Internet erscheinen.

Der Contergan-Skandal und seine Folgen

Vorgeschichte: Contergan wurde Ende der 1950er- und Anfang der 1960er-Jahren millionenfach als Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere verkauft. Es half unter anderem gegen die typische morgendliche Schwangerschaftsübelkeit. 1958 wurden Fehlbildungen bei Neugeborenen erstmals im Bundestag diskutiert. Damals vermutete man einen möglichen Zusammenhang mit Kernwaffentests. Hinweise auf die fatale Wirkung des Wirkstoffs Thalidomid gab es schon früher, aber erst Ende 1961 wurde der Zusammenhang zwischen Contergan und den Fehlbildungen erkannt und das Medikament vom Hersteller, der Grünenthal GmbH, vom Markt genommen. Der Skandal hatte weltweite Auswirkungen auf den Umgang mit Arzneimittelzulassungen. Man schätzt, dass weltweit 5000 bis 10 000 geschädigte Kinder auf die Welt kamen. Außerdem gab es eine unbekannte Zahl von Totgeburten.

Prozess: Im Januar 1968 wurde vor dem Landgericht Aachen das Verfahren gegen neun Verantwortliche des Contergan-Skandals eröffnet. Die Anlage lautete auf vorsätzliche und fahrlässige Körperverletzung, fahrlässige Tötung und schwerer Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz. Im April 1970 schlossen die Eltern der Geschädigten mit dem Unternehmen Grünental einen Vergleich: Dazu gehörte ein weiterer Klageverzicht und eine Entschädigung von 100 Millionen Mark, die Grünental in eine Stiftung einbezahlte.

Entschädigung: Die Entschädigungen für den einzelnen fielen gering aus. 2002 bis 2008 lagen die monatlichen Renten je nach Schädigung bei 121 bis 545 Euro. 1997 waren die Stiftungsmittel aufgebraucht, seither werden die Entschädigungen komplett aus dem Bundeshaushalt gezahlt. Im Mai 2008 beschloss der Bundestag eine Verdoppelung der Zahlungen. Mit dem 3. Conterganstiftungsänderungsgesetz 2013 wurden die Renten zuletzt deutlich erhöht, je nach Schädigungsgrad auf maximal 7480 Euro pro Monat.