Trotz vieler bürokratischer Erschwernisse würde sich Rainer Graneis wieder für den Beruf des Hausarztes entscheiden. Foto: Roberto Bulgrin - Roberto Bulgrin

Dass immer mehr Patienten wegen Bagatellen die Notaufnahme eines Krankenhauses aufsuchen, hält Rainer Graneis, der Sprecher der Kreisärzteschaft Esslingen, für eine „katastrophale Entwicklung“.

OstfildernVöllig unverständlich ist für den Nellinger Hausarzt Rainer Graineis, dass immer mehr Menschen wegen Bagatellen die Notaufnahme in einem Krankenhaus aufsuchen. „Das halte ich für eine katastrophale Entwicklung“, sagte der 63-Jährige im EZ-Interview. Aus Anlass seiner Wiederwahl zum Vorsitzenden der Kreisärzteschaft Esslingen haben wir den Allgemeinmediziner zu aktuellen gesundheitspolitischen Themen befragt.

Würden Sie sich heute wieder für den Beruf des Allgemeinmediziners entscheiden?
Ja, hundertprozentig. Der Reiz daran ist, dass man eine umfassende Sicht auf einen Patienten hat. Man kennt die Vorgeschichte und die Zusammenhänge der Krankheiten. Man kennt die Verwandtschaftsverhältnisse, die Krankheiten, die es in den Familien gibt. Der Beruf ist unwahrscheinlich vielseitig, weil alle Fächer betroffen sind, von den Augen- bis zu den Knochenkrankheiten.

Was hält junge Leute davon ab, Haus- oder Landarzt zu werden?
Drei Dinge: die familienunfreundlichen Arbeitszeiten, das finanzielle Risiko und die große Bürokratie.

Warum entscheiden sich immer mehr Frauen für den Beruf?
Wenn sie Familie haben, sind viele Frauen darauf angewiesen, in Teilzeit zu arbeiten. Das kann man in dem Beruf des Allgemeinmediziners ganz gut machen.

Wie steht es generell um die Hausarztversorgung im Landkreis Esslingen?
Im gesamten Landkreis gibt es 850 Ärzte, davon sind 320 Hausärzte. Jeweils die Hälfte sind im Altkreis Esslingen angesiedelt. Von der Anzahl her ist die Versorgung ausreichend.

Trotzdem gibt es vor allem in kleineren Orten einen Mangel.
Versorgungslücken gibt es auch in größeren Orten. Bei den genannten Zahlen handelt es sich um Köpfe. Zu wie viel Prozent die jeweiligen Ärzte arbeiten, steht nicht in der Statistik. Deswegen lässt sich schwer eine Aussage treffen, wie gut oder schlecht die Versorgung ist.

Was sagen Sie zur Impfpflicht gegen Masern?
Als absoluter Impf-Freund müsste ich eigentlich dafür sein. Aber ich habe etwas gegen Zwang. Es steht ein unheimlich großer bürokratischer Aufwand dahinter, wenn man die Impf-Muffel bestrafen will. Die Impf-Quote gegen Masern bewegt sich schon auf einem hohen Niveau, ist aber sicher noch zu verbessern.

Seit Anfang Juli gilt das sogenannte Terminservice- und Versorgungsgesetz. Wie ist das für Sie und Ihre Kollegen händelbar, gerade was die Termine angeht?
Momentan merken wir noch gar nichts von den Auswirkungen des Gesetzes. Die Forderung nach erweiterten Sprechzeiten ist eine Unverschämtheit. Die niedergelassenen Ärzte arbeiten im Schnitt 52 Stunden pro Woche. Jetzt wird suggeriert, dass man durch eine Ausweitung der Sprechstunden von 20 auf 25 die Woche die Versorgung verbessert. Das ist vielleicht etwas für die öffentliche Wirkung, geht aber völlig am Thema vorbei. Fachärzte müssen fünf offene Sprechstunden vorhalten. Das heißt, sie dürfen da keine Termine vergeben. Die Patienten sollen einfach kommen. Das heißt konkret, der Internist müsste sich fünf Stunden freihalten, in denen er keine Darm- oder Magenspiegelungen machen kann. Solche aufwendigen Untersuchungen kann man nicht ohne Vorbereitungen machen. Die fünf Stunden sind für ihn verlorene Zeit. Das ist einer von vielen Punkten, die mit der Versorgungsrealität überhaupt nicht zusammenpassen.

Spüren Sie etwas von den Engpässen bei der Versorgung mit Medikamenten?
Manche Chargen von manchen Medikamenten mussten zurückgerufen werden. Dadurch kam es zur Überversorgung mit alternativen Medikamenten und eben den Engpässen auf der anderen Seite. Aber man kann immer umsteigen auf wirkungsgleiche Medikamente. Die heißen dann vielleicht anders, aber man hat trotzdem ein adäquates Mittel. Für den Patienten ist dies etwas ärgerlich, aber man kann mit dem Problem umgehen.

Thema Praxisgebühr. Sollte sie wieder eingeführt werden?
Gut, dass es die Praxisgebühr nicht mehr gibt. Wir möchten damit nichts mehr zu tun haben. Wenn es irgendjemand anders einkassieren möchte, wie wir es früher machen mussten, soll er es gerne tun. Wir machen es nicht.

Immer mehr Patienten kommen wegen Bagatellen in die Notaufnahmen. Wie beurteilen Sie diesen Trend?
Das ist eine katastrophale Entwicklung. Leute mit solchen Diagnosen haben in der Klinik nichts verloren, zumal in unserem Kreis, wo wir Notfallpraxen haben. Das sind außerhalb der Sprechstundenzeiten der ersten Ansprechpartner für Notfälle oder dringende Krankheitsfälle. Aber es ist leider so, dass viele Leute auch während der Sprechstunden einfach ins Krankenhaus gehen. Da fehlt mir die Einsicht, warum das gemacht wird. Denn das ist absolut unnötig. Ich muss nicht um Mitternacht wegen einer Blasenentzündung in die Urologie oder in die Orthopädie wegen eines Hexenschusses.

Eine vor kurzem veröffentlichte aufsehenerregende Bertelsmann-Studie besagt, dass man mit weniger Krankenhäusern eine bessere Versorgung möglich wäre. Wie stehen Sie dazu?
Das mag für manche Bezirke gelten. Bei uns hat man schon für gesunde und effektive Strukturen gesorgt. Das Krankenhaus in Plochingen ist geschlossen worden, ohne, dass die Versorgung darunter gelitten hätte. Aber die im Landkreis verbliebenen Kliniken arbeiten am Anschlag. Man darf nicht alles im medizinischen Sektor nach den Kosten beurteilen. Das geht einfach nicht. Zudem hat das Bundeskartellamt die Fusion von Esslingen und Ruit untersagt.

Das Interview führte Harald Flößer.