Über einen kostenlosen Nahverkehr dürften sich viele freuen. Wie er umgesetzt werden soll, bleibt aber offen Foto: dpa - dpa

Der Vorschlag der Bundesregierung, durch kostenlose Busse und Bahnen saubere Luft in den Städten zu gewährleisten, stößt nicht überall auf Zuspruch. Politiker aus dem Kreis Esslingen sehen den Gratis-ÖPNV kritisch.

Kreis Esslingen - Fahrscheinloser Busverkehr? Weniger Stau, dafür bessere Luft? Das dürfte für viele Pendler im Raum Stuttgart verlockend klingen – und könnte Realität werden, wenn es nach der Bundesregierung geht. Die will mit Ländern, Kreisen und Städten über Modelle nachdenken, Bus- und Bahnfahrten im Nahverkehr zumindest zeitweise kostenlos anzubieten, damit die Leute ihre Autos stehen lassen.

Doch noch schweben über dem kostenlosen ÖPNV (Öffentlicher Personen-Nahverkehr) etliche Fragezeichen. So äußerte sich Heinz Eininger, Landrat des Landkreises Esslingen, kritisch zu dem Vorstoß aus Berlin: „Dieser Vorschlag scheint reichlich unausgegoren zu sein. Die Verkehrsfinanzierung fußt derzeit auf einer angemessenen Beteiligung der Nutzer (Fahrgeld) und auf Zuschüssen der öffentlichen Hand, insbesondere der Landkreise und Städte und Gemeinden.“ Derzeit sei laut Eininger weder geklärt, wer die Entgelt-Einnahmeausfälle langfristig bezahle, noch wer bei einer steigenden Nachfrage die notwendige Infrastruktur, also Busse, Bahnen und Schienen, finanziere. „Und nehmen wir das Beispiel Herrenberg. Herrenberg gehört zum VVS. Soll jetzt nur der Stadtverkehr frei sein oder soll jeder Herrenberger im VVS umsonst fahren dürfen? Fragen über Fragen.“

Und die lässt die Bundesregierung bislang unbeantwortet. Woher das Geld für den Gratis-ÖPNV kommen soll, haben weder das Kanzleramt noch das Umwelt- und das Verkehrsministerium erklärt – sie hatten der EU-Kommission die neue Idee in einem Brief präsentiert. Dabei ist die Frage der Finanzierung wesentlich. Ostfilderns Oberbürgermeister Christof Bolay drückt das so aus: „Wenn der Bund so etwas vorhat, muss er es auch bezahlen.“ Es könne nicht sein, dass auf Bundesebene irgendeine Idee geboren werde und die Kommunen diese dann tragen sollen. Auf den ersten Blick klinge ein kostenloser ÖPNV zwar gut. „Aber wie bei vielem steckt der Teufel im Detail. Für mich ist im Moment noch nicht erkennbar, wie das Ganze praktisch umgesetzt werden soll. Ein Beispiel:Es gibt bestehende Verträge mit Busunternehmen, die ja nicht einfach aufgehoben werden können.“

Dass dringend Maßnahmen für eine bessere Luftqualität eingeleitet werden müssen, zeigt ein Blick in Bolays Nachbarschaft. In Esslingen wurde der Feinstaub-Grenzwert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft laut Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg im Jahr 2017 an 26 Tagen überschritten – erlaubt sind 35 Überschreitungstage. Esslingen gehört zu den Spitzenreitern der von Feinstaub belasteten Städte im Land. Erneut über dem Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft lag die Stadt 2017 auch beim Stickstoffdioxid: Im vergangenen Jahr betrug der Jahresmittelwert 48 Mikrogramm.

Dennoch: Auch Esslingens Oberbürgermeister Jürgen Zieger bewertet den Vorschlag aus Berlin kritisch: „Die Städte sind nicht die Verursacher der Emissionen und wehren sich deshalb dagegen, für Probleme in Anspruch genommen zu werden, die ursächlich in der Bundespolitik und in der Wirtschaft zu verantworten sind. Die Stadt Esslingen am Neckar erwartet, dass die durch ÖPNV-Angebote zum Nulltarif entstehenden finanziellen Defizite komplett vom Bund übernommen werden.“ Außerdem „müssten die Träger und Anbieter der ÖPNV-Angebote längeren Vorlauf haben, um Kapazitätsausweitungen oder Fahrplanveränderungen verlässlich organisieren zu können“, heißt es weiter aus dem Rathaus. „Ohne den Ausbau der Infrastruktur, Kapazitätsausweitungen oder Fahrplanergänzungen dürften die in den Hauptverkehrszeiten schon jetzt komplett ausgelasteten ÖPNV-Systeme in der Region Stuttgart wie in Esslingen nicht in der Lage sein, einen deutlich höheren Wechsel vom Individualverkehr auf den ÖPNV zu gewährleisten“, betont Zieger.

Tatsächlich sind schon jetzt in vielen Städten gerade im Berufsverkehr Busse und Bahnen rappelvoll, wie die Verkehrsunternehmen beklagen. „Ein kurzfristiger, sprunghafter Fahrgastanstieg würde die vorhandenen Systeme vollständig überlasten“, warnt Jürgen Fenske, Chef der Kölner Verkehrsbetriebe und Präsident des Branchenverbands VDV. Zusätzliche Trams und U-Bahnen zu bekommen, dauert wegen Ausschreibungen, Entwicklung und Genehmigung Jahre - ebenso der Bau möglicher neuer Strecken. Neue Busse sind schneller zu haben, so lange sie nicht einen Elektroantrieb haben sollen. E-Busse sind noch in der Erprobung.

Armin Elbl, Bürgermeister von Wernau, befürchtet, durch einen kostenlosen Nahverkehr falsche Anreize zu setzen: „Es könnte dazu führen, dass Leute, die heute mit dem Fahrrad unterwegs sind, eventuell auf den ÖPNV umsteigen.“ Wenn der Bund massiv investieren wolle, sollten die Gelder lieber in eine Qualitätsverbesserung der Bahn fließen – etwa in eine bessere Taktung, sagt Elbl. Für Wernau konkret könnte das so aussehen: Wenn die S-Bahnen im Viertelstundentakt statt wie bisher im Halbstundentakt fahren würden, könnte das helfen, die Verkehrslast zumindest zu einem großen Teil von der Kirchheimer Straße – der Ortsdurchfahrt – zu nehmen. „Das hätte auch eine Neutaktung des Stadtbusses zur Folge. Wenn das Geld darin investiert wird, betrachte ich es als richtig angelegt.“ Elbls Fazit zu dem Vorschlag: „Was nix kostet, isch nix.“

Eine weitere offene Frage ist, ob der Gratis-ÖPNV nur in den Städten mit hoher Schadstoffbelastung kommt. Das wäre den Verbrauchern kaum vermittelbar, warnt der Autofahrerclub ADAC. Notwendig seien einfache, günstige Tarife und ein zuverlässiger Fahrplan in Stadt und Land. So würden Busse und Bahnen zur Alternative für Pendler.

Der neue ÖPNV wäre im Wortsinn auch nicht kostenlos. Fahrzeuge, Fahrer und Betriebe müssten ja trotzdem bezahlt werden. Schon jetzt wird nach Branchenangaben jede Fahrt zu etwa einem Viertel aus Steuergeld subventioniert. Und schon heute fehle Geld, um die steigenden Fahrgastzahlen zu bewältigen.

Die Folge: Ausfälle, Verspätungen und überfüllte Fahrzeuge, wie auch die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) kritisiert. „Das ermuntert Niemanden, das Auto stehen zu lassen, selbst wenn die Fahrt mit dem Nahverkehr nichts kostet“, kritisiert der Vorsitzende Alexander Kirchner. Längst kursieren deshalb auch Modelle, Gratis-Fahrten schrittweise einzuführen, zunächst außerhalb der Stoßzeiten und erst dann ganztägig, wenn es genug Fahrzeuge gibt.

Erstattet der Staat die Fahrpreise vollständig, wären laut Branchenverband VDV zwölf Milliarden Euro jährlich nötig. Zum Vergleich: Die gesamten Verkehrsinvestitionen im Bundeshaushalt 2018 liegen bei gut 14 Milliarden Euro. Es müsste an anderer Stelle gekürzt werden. Ob dazu etwa Diesel-Subventionen von sieben Milliarden Euro fallen, wie Greenpeace fordert, ist offen.